Review: Das kalte Jahr | Roman Ehrlich (Buch)

Und weiter geht die wilde Fahrt mit der nächsten Kritik und einem Buch, das ich euch wärmstens ans Herz legen möchte, weil es ein zutiefst ungewöhnliches und lohnenswertes Leseerlebnis bereithält. Viel Spaß und einen schönen Abend!

Das kalte Jahr

Das kalte Jahr, DE 2013, 248 Seiten

Das kalte Jahr von Roman Ehrlich | © DuMont Buchverlag
© DuMont Buchverlag

Autor:
Roman Ehrlich

Verlag (D):
DuMont Buchverlag
ISBN:
978-3-832-19725-4

Genre:
Drama | Mystery | Endzeit

 

Inhalt:

Das ganze Land ist von einer grenzenlos scheinenden Schneeschicht bedeckt. Einen jungen Mann drängt es aus der Stadt hinaus gen Norden, zurück in seine Heimatstadt, zum Haus seiner Eltern. Allein und zu Fuß wandert er an verlassenen Autobahnen entlang durch die Tundren des ewigen Eises und meint bald, sich selbst zu beobachten, wie er durch die eisige Kälte stapft. Das Gefühl der Beklommenheit weicht alsbald der Erleichterung, den Ort seiner Jugend erreicht zu haben, doch im Elternhaus findet er statt derer einen kleinen Jungen namens Richard, der sich dort eingerichtet hat und scheinbar lebt. Der junge Mann nimmt dies hin und auch, dass der Junge sein altes Kinderzimmer okkupiert und sich seltsam distanziert und mürrisch gibt.

Unter denen, die draußen auf dem Feld sitzen, erkennt man die Toten dran, dass der Schnee auf ihnen liegen bleibt.

Der Mann beginnt, dem Jungen historische Geschichten von Auswanderern, Naturkatastrophen und Tragödien zu erzählen, unterhält ihn mit für ihn lohnenswert oder eindrücklich scheinenden Bildern und Zeichnungen und bemüht sich, sich dem neuen Weggefährten anzunähern. Währenddessen versinkt der junge Mann aber auch immer wieder in schwelgerischer Melancholie, tritt schließlich einen Job an, der ihm abverlangt, Momenteindrücke aus dem Fernsehen, dass nur noch schlecht und rauschend zu empfangen ist, auf Video zu bannen und sie den von der Außenwelt isolierten Einwohnern des Ortes zuzustellen. Die verrauschten Bilder allerdings diffundieren nach und nach in sein alltägliches Denken und Erleben, das bald schon surreale Züge annimmt, die ihm selbst allerdings verborgen zu bleiben scheinen. Der junge Richard indes verbarrikadiert sich immer öfter im Kinderzimmer und werkelt an einem geheimen Projekt.

Rezension:

Roman Ehrlichs Debüt Das kalte Jahr ist ein Buch vieler Lesarten und Deutungsmöglichkeiten, bleibt in seinen oft fragmentarisch wirkenden Erzählungen ungewohnt vage, offenbart insbesondere dadurch aber eine unterschwellige, melancholische Kraft, die den Leser dazu ermuntert, seinerseits auf Sinnsuche zu gehen und ähnlich dem Erzähler seine Gedanken schweifen zu lassen, denn das nicht alles mit rechten Dingen zugeht in der Welt des Protagonisten, wird einem spätestens klar, als dieser zwanglos zu akzeptieren scheint, dass seine Eltern schlichtweg verschwunden, einfach nicht mehr anwesend sind im Haus seiner Kindheit, in das es ihn einem Sog gleich getrieben hat, um der Kälte in der Stadt zu entfliehen und wo sich statt der erhofften Katharsis nur weitere Rätsel auftun, allen voran das um den Jungen, der sich in dem alten Kinderzimmer des Erzählers eingenistet zu haben scheint und ebenso wortkarg und eigenbrötlerisch daherkommt wie sein erwachsenes Alter Ego.

Mit dem Loch aber, das er sich in den Kopf gesprengt hatte, hinterließ er auch ein Loch in unserem Rechtsbewusstsein, über das wir künftig werden hinwegsteigen müssen, wenn wir unsere gewohnten Wege weiterhin beschreiten wollen. Dieser zerfranste Gesichtsrest, so endete der Kommentar von John C. Klein, der da nach der Sprengung noch übrig geblieben sei, der schaue nun aus unversehrten Augen über den Rand der Zerstörung und ins Gewissen der Nation.

Dabei wären wir auch schon bei der ersten Lesart des Buches, denn die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei dem Jungen namens Richard um eine jüngere Ausgabe des Erzählers handelt, der er sich wieder anzunähern versucht, quasi sich dem eigenen Kind im Inneren wieder zuzuwenden. Diese Interpretation wird noch unterstützt durch einige weitere Faktoren wie etwa das gänzliche Fehlen von Kinderfotos im Haus der Eltern, deren Abwesenheit wie gesagt ebenso achselzuckend hingenommen wird wie viele andere Merkwürdigkeiten innerhalb der surreal anmutenden Ortschaft, die von den Schneemassen gänzlich verschüttet scheint. Doch es ist nicht so sehr die Abwesenheit der Sonne oder der immer währende Winter, sondern vielmehr das Fehlen menschlicher Wärme und Interaktion, die den namenlosen Erzähler immer wieder in dumpfes Brüten verfallen lassen, ihn in traumwandlerischer Art aus dem Haus treiben, in die Straßen seiner Heimatstadt, wo er Momenteindrücke erhascht und Zeichen fabuliert, über deren Wahrheitsgehalt und Aussagekraft der Leser bewusst und vorsätzlich im Unklaren gelassen wird.

Das eigentliche Geschehen wird dann auch immer wieder unterbrochen von historischen Erzählungen und Schwarzweißbildern, mit denen der Erzähler den Jungen zu unterhalten und ihm näherzukommen versucht. Diese Geschichten sind mal mehr, mal weniger nachvollziehbar in den Kontext gebettet, lassen allerdings größtenteils keinen roten Faden erkennen, unterstützen aber in ihrer Abstraktheit den Eindruck, dass der Erzähler nicht willens und fähig ist, sich mit dem Kind wirklich auseinanderzusetzen, sondern sich stattdessen damit begnügt, diesem Vorträge zu halten von einer Zeit, die nicht zuletzt des unbarmherzigen Winters wegen noch weiter in die Ferne gerückt scheint als man es allein aufgrund der chronologischen Verortung vermuten würde. Das kalte Jahr wird damit zu einer alles andere als leichten oder leichtfüßigen Lektüre, doch lohnt sich der Blick, wenn man den bereit ist, damit umzugehen, dass Ehrlich keine Antworten und Erkenntnisse liefert, sondern stattdessen nur Denkanstöße und Fragmente offeriert, aus denen sich der ambitionierte Leser seine eigene Interpretation und Ausdeutung zu generieren angehalten ist.

Entgegen der seit langer Zeit in mir vorherrschenden Gleichgültigkeit gegenüber den Eindrücken im Ort, aus einem Impuls heraus, dagegen vielleicht doch noch etwas zu unternehmen, bei der Durchsicht der Aufnahmen später vielleicht doch die kleinen Veränderungen, die Abweichungen und Besonderheiten der einzelnen Tage mit dem angestrengt suchenden Auge oder unter einem Vergrößerungsglas zu erkennen, fing ich in dieser Zeit auch wieder an, meinen Fotoapparat an der Schulter durch den Ort zu tragen.

Diese Ambitionen wiederum erfüllt der Autor mit traumwandlerischer Sicherheit und einer in weiten Teilen als poetisch zu bezeichnenden Sprache, die sich ganz auf den melancholischen Gemütszustand des Protagonisten konzentriert und diesen über die Sprache erlebbar zu machen weiß. Schlussendlich wird in Das kalte Jahr nicht einmal deutlich, ob es sich bei den Schneemassen um ein reales Phänomen handelt oder nur um eine Parabel für den inneren Gemütszustand, die Herkunft und Bedeutung des Kindes bleibt ebenso unklar wie die Intention vieler Geschichten. Die erhoffte Katharsis oder Erleuchtung am Ende bleibt wie gesagt ebenso aus, wenngleich man die letztlich eintretenden Geschehnisse durchaus so deuten könnte, doch bleiben selbst die abschließenden Sätze dermaßen unwirklich, dass man sich auf den letzten Zeilen schmerzlich bewusst wird, schon viel zu weit in das Innenleben der Figur vorgedrungen zu sein, um einen vermeintlichen Sonnenstrahl noch als solchen erkennen, geschweige denn an dessen Möglichkeit glauben zu können.

Fazit & Wertung:

Roman Ehrlichs Debüt Das kalte Jahr ist weniger ein Roman als vielmehr eine beeindruckend eindrückliche Parabel über einen Mann, der sich aufmacht, zu seinen Wurzeln zurückzukehren und nicht fähig scheint, zu seinem früheren Selbst vorzudringen und sich somit aus der Kälte und Einsamkeit zu befreien, die von ihm Besitz ergriffen hat.

9 von 10 Momenteindrücken der Melancholie

Das kalte Jahr

  • Momenteindrücke der Melancholie - 9/10
    9/10

Fazit & Wertung:

Roman Ehrlichs Debüt Das kalte Jahr ist weniger ein Roman als vielmehr eine beeindruckend eindrückliche Parabel über einen Mann, der sich aufmacht, zu seinen Wurzeln zurückzukehren und nicht fähig scheint, zu seinem früheren Selbst vorzudringen und sich somit aus der Kälte und Einsamkeit zu befreien, die von ihm Besitz ergriffen hat.

9.0/10
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Weitere Details zum Buch und dem Autor findet ihr auf der Seite des DuMont Buchverlages.

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Das kalte Jahr ist am 09.07.13 im DuMont Buchverlag erschienen. Hat der Artikel euer Interesse geweckt, dann bestellt doch über den Link und unterstützt damit das Medienjournal!

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Kommentare (2)

  1. caterina 13. Oktober 2013
    • Wulf | Medienjournal 13. Oktober 2013

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