Review: Die zweite Haut | Ryan David Jahn (Buch)

So ihr Lieben, da bin ich wieder und versorge euch mit einer neuen und hoffentlich spannenden Buch-Kritik. Wo ich aber schon die ganze Woche so rezensionsfaul gewesen bin, belasse ich es bei dem Buch und schiebe heute nicht noch einen Comic nach, dafür ist es nämlich auch viel zu kalt, weshalb ich mich lieber gleich auf die Couch verziehe und ein bisschen lesen werde. Also, macht euch einen schönen Abend und freut euch schon mal auf das nahende Wochenende!

Die zweite Haut

Low Life, USA 2010, 320 Seiten

Die zweite Haut von Ryan David Jahn | © Heyne
© Heyne

Autor:
Ryan David Jahn
Übersetzer:
Teja Schwaner

Verlag (D):
Heyne Verlag
ISBN:
978-3-453-43754-8

Genre:
Thriller | Drama | Mindfuck

 

Inhalt:

Wasser tropf-tropf-tropfte langsam aus dem lecken Hahn. Er betrachtete sich im von Zahnpastaflecken gesprenkelten Spiegel des Medizinschränkchens. Die Spiegelfolie auf der Innenseite der Glasscheibe schälte sich ab wie sonnenverbrannte Haut und gab den Blick auf Tuben und Fläschchen mit Salben und Pillen frei. Simon ließ die Borsten der Zahnbürste über die Oberfläche seiner Zähne kratzen. Das Zahnfleisch schmerzte, und als er ins Waschbecken spuckte, mischten sich Fäden von Rot in das Zahnpastaweiß. Er drehte den Wasserhahn auf und spülte die Reste weg.

Inmitten von L. A. fristet Simon in den Filboyd Apartments am Wilshire Boulevard ein tristes Dasein, geht einem eintönigen Job nach, unterhält oberflächliche Kontakte zu einigen wenigen Personen und sieht sich zu einer tieferen sozialen Bindung schlichtweg nicht in der Lage, wenngleich ihm seine eigene Einsamkeit schmerzlich bewusst ist. In der Leere seiner kargen Behausung trinkt sich Simon abends in den Schlaf, um tags darauf im selben Trott fortzufahren, mehr als einmal sonntags zum Büro zu fahren und enttäuscht festzustellen, dass es verschlossen ist. Trauriger Höhepunkt in seinem Leben ist daher auch der Abend, an dem eine Gestalt sich Zugang zu seinem Apartment verschafft und nach anfänglichem Versteckspiel ohne weitere Umschweife auf ihn losgeht mit dem erklärten Ziel, Simon zu töten.

Doch trotz seiner Lethargie klammert sich Simon ans Leben und es gelingt ihm, den Angreifer niederzuschlagen. Nach dem Schock, einen Menschen getötet zu haben, folgt diesem die Erkenntnis, dass der Angreifer Simon wie aus dem Gesicht geschnitten ähnelt, abgesehen von einer rund zehn Zentimeter langen Narbe, die das Gesicht des Mannes verunstaltet. Zutiefst verwirrt und erschüttert von dem unbedingten Willen des Angreifers, ihn zu töten, beschließt Simon, der Sache auf den Grund zu gehen und herauszufinden, wer es auf ihn abgesehen haben könnte und warum. Ohne es zu ahnen macht Simon mit diesem Vorhaben einen ersten wie folgenschweren Schritt in Richtung einer Zeit, Raum, Wahrheit, Realität, Wahn, Fiktion und Identität verwirbelnden und verschlingenden Reise.

Rezension:

Unglaublich, wie wandelbar sich Newcomer Ryan David Jahn nach bis dato hierzulande drei veröffentlichten Büchern gibt und auch wenn es mir nicht recht einleuchten will, dass nun Die zweite Haut, sein eigentlich zweites Buch, quasi nachgeschoben worden und erst rund ein halbes Jahr nach Der Cop erschienen ist, tut dieser Umstand im Grunde nichts zur Sache, wenn es darum gehen soll, dass jedes seiner Bücher bisher durchaus dem breiten Felde der Thriller zugeordnet werden konnte, sich aber jeweils auf andere Aspekte konzentrierte und daher nie wie ein müder Abklatsch des vorangegangenen Buches wirkte, was sich nun eben auch hier bestätigt, denn diesmal widmet sich Jahn ganz gezielt und konsequent dem Sub-Genre des Psycho-Thrillers und blickt tief in die Innenwelten seines Protagonisten Simon.

Simon durchquerte die Halle, stieß die von Fingerabdrücken übersäten Glastüren auf und trat hinaus auf den Wilshire Boulevard, an dem sich die Filboyd Apartments befanden, eine der zahlreichen Bausünden, die sich zwölf Stockwerke hoch in den sonnengebleichten Himmel von Los Angeles reckten, rechteckig und zweckmäßig wie eine Kaserne, mit einer Feuerleiter an der Rückseite, die wie die Radierung einer schiefen Wirbelsäule wirkte.

Der ist wirklich eine traurige Gestalt und tatsächlich fiel es mir schwer, die ersten Seiten zu lesen, denn so sehr mich der Autor sonst von der ersten Seite an zu packen wusste, so sehr musste ich mich diesmal überwinden, dem tristen und traurigen Treiben zu folgen und meine Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Das klingt nun aber schlimmer als es sich wirklich darstellt, denn Jahns geschliffene Sprache macht auch die einleitenden Seiten von Die zweite Haut durchaus spannend und lesenswert, doch in der Schilderung der gelebten Tristesse kommt er eben nicht an seine anderen beiden Werke heran, da dort eben unmittelbar von null auf hundert beschleunigt wird, während er sich hier die Zeit nimmt und auch nehmen muss, wie sich später zeigen wird, um das Setting zu etablieren. In der Rückschau erhalten also speziell die ersten fünfzig Seiten quasi nachträglich ihre Daseinsberechtigung und ich kann nur jedem geneigten Leser raten, sie aufmerksam zu lesen, da sich hier zuhauf Hinweise und Querverweise finden, die später noch erhellende Momente bescheren dürften.

Jetzt stehe ich natürlich auch vor dem großen Problem, eigentlich nichts über den Fortgang des Plots verraten zu können, da jedwede Vorwegnahme den Roman in seiner Wirkung und in seinen Überraschungsmomenten akut beschneiden würde, weshalb ich mich darauf beschränken muss, festzuhalten, dass es wenn zwar nicht wirklich übersinnlich, so doch zumindest extrem surreal und – auch wenn das jetzt komisch klingen mag – sozusagen philosophisch werden wird, sprich, wer sich eine handfeste und akkurate Auflösung erwartet, der sollte möglicherweise lieber auf einen handelsüblichen Thriller zurückgreifen, denn Ryan David Jahn geht hier durchaus ungewohnte Wege und nimmt sich die literarische Freiheit, seine Geschichte mit einem sich alsbald abzeichnenden, durch die umgebenden Umstände aber durchaus selbst legitimierenden Twist in Richtung eines phantasmagorischen Schauermärchens zu rücken, dass zwar nicht durch seine logische Akkuratesse, dafür aber umso mehr mit seiner fantasievollen literarischen Finesse unterhält und besticht.

Es wurde ein Lächeln von ihm erwartet, also lächelte er. Es wurde erwartet, dass er über einen Witz lachte, also lachte er. Es wurde erwartet, dass er sich mit seinen Freunden über Fernsehsendungen unterhielt, also sah er fern, um mitreden zu können. Aber er fühlte sich von alledem ausgeschlossen – abgetrennt durch eine unsichtbare Membran, gefangen sogar außerhalb seiner selbst, an einem Nicht-Ort, sodass er sich aus der Distanz dabei beobachten konnte, wie er mit der Welt interagierte – nicht imstande, sich zu beteiligen, auch wenn er den Anschein erweckte, es zu tun.

Allerdings muss ich auch sagen, dass mir das Ende, zumindest die letzten zwei Seiten, nicht so ganz ins Konzept passen wollte, mir zu handzahm, zu abschließend, zu glattgebügelt wirkte und zudem auch, dass die Geschichte, über die ich ja dummerweise so gut wie nichts verraten kann, mir auch nicht gänzlich unbekannt war, zwar mit vielen neuen Details und Ansätzen zu punkten wusste, aber eben auch längst nicht die bahnbrechende Überraschung bereithielt, wie vielleicht angedacht. Dennoch, auch wenn Die zweite Haut mit geringem Abstand das bis dato schwächste Werk des Schriftstellers ist, haben mir Ansatz und Ausgestaltung der Geschichte ausnehmend gut gefallen, zumal sich die 320 Seiten in Windeseile weglesen und keine Langeweile aufkommen lassen, stattdessen eine immer größere Sogwirkung und eine zunehmend surreale, von Wahnsinn geschwängerte Atmosphäre entfalten, dass ich allein die zweite Hälfte in einem Stück durchlesen musste, was bei mir zugegebenermaßen eher selten vorkommt, hier aber auch sinnvoll war, um die vielen Zusammenhänge, Anspielungen, Rückbezüge und Querverweise zu erkennen, zu verstehen und genießen zu können. Und ihr werdet mich dann auch verstehen, wenn ihr die zweite Haut gelesen habt, denn am Ende ergibt (fast) alles Sinn oder zumindest ein in sich stimmiges Ganzes.

Fazit & Wertung:

Mit Die zweite Haut hat Ryan David Jahn erneut einen fesselnden und durch und durch ungewöhnlichen Thriller geschaffen, mit dem er seinen Ruf als vielversprechendes Talent weiter festigt, zumal er auch hier wieder eine gänzlich andere Richtung einschlägt und nicht droht, sich in seinen Erzählungen zu wiederholen. Knapp und präzise formuliert, benötigt der Roman dennoch einige Zeit, um in Fahrt zu kommen, was angesichts der geringen Seitenzahl ein kleines Manko darstellt, zumal die Story, die immer mehr in surreale und von Wahnsinn geprägte Gefilde abdriftet, möglicherweise manchen Leser verschrecken könnte. Für Freunde ungewöhnlicher Erzählungen ist Jahns Werk allerdings eine echte Empfehlung, auch wenn die sich aus seiner Prämisse ergebenden Konsequenzen in ihrer Konzeption durchaus bekannt vorkommen könnten.

8 von 10 Déjà-vu-Erlebnissen

Die zweite Haut

  • Déjà-vu-Erlebnisse - 8/10
    8/10

Fazit & Wertung:

Mit Die zweite Haut hat Ryan David Jahn erneut einen fesselnden und durch und durch ungewöhnlichen Thriller geschaffen, mit dem er seinen Ruf als vielversprechendes Talent weiter festigt, zumal er auch hier wieder eine gänzlich andere Richtung einschlägt und nicht droht, sich in seinen Erzählungen zu wiederholen. Knapp und präzise formuliert, benötigt der Roman dennoch einige Zeit, um in Fahrt zu kommen, was angesichts der geringen Seitenzahl ein kleines Manko darstellt, zumal die Story, die immer mehr in surreale und von Wahnsinn geprägte Gefilde abdriftet, möglicherweise manchen Leser verschrecken könnte. Für Freunde ungewöhnlicher Erzählungen ist Jahns Werk allerdings eine echte Empfehlung, auch wenn die sich aus seiner Prämisse ergebenden Konsequenzen in ihrer Konzeption durchaus bekannt vorkommen könnten.

8.0/10
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Weitere Details zum Buch und dem Autor findet ihr auf der Seite des Heyne Verlag. Dort findet sich übrigens auch eine Leseprobe.

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Die zweite Haut ist am 14.07.14 als Taschenbuch bei Heyne erschienen. Hat der Artikel euer Interesse geweckt, dann bestellt doch über den Link und unterstützt damit das Medienjournal!

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