Review: Die Vermissten | Caroline Eriksson (Buch)

Heidewitzka ist das warm heute – also zumindest hier in unseren Breitengraden – , man könnte fast meinen, es gäbe doch noch einen Sommer in Deutschland. Nach einem produktiven Arbeitstag inklusive Tablet-Kaufberatung für die Kollegin wollen wir aber keine Müdigkeit vorschützen und machen gleich weiter mit der allwöchentlich obligatorischen Buch-Kritik, bei der ich auch diesmal wieder in leichte Euphorie verfallen durfte, wie ihr gleich lesen werdet. Jetzt muss ich mich aber auch gleich noch ein wenig an den Haushalt begeben, meine Holde verlässt sich da nämlich ganz auf mich, weshalb ich vorsorglich schon jetzt einen schönen Abend wünsche. Und genießt die Sonne (so denn auch bei euch vorhanden)!

Die Vermissten

De Försvunna, SE 2015, 272 Seiten

Die Vermissten von Caroline Eriksson | © Penguin Verlag
© Penguin

Autorin:
Caroline Eriksson
Übersetzerin:
Wibke Kuhn

Verlag (D):
Penguin Verlag
ISBN:
978-3-328-10038-6

Genre:
Mystery | Thriller

 

Inhalt:

Es mag sein, dass der See einen offiziellen Namen hat, doch in der Gegend ist das grünschwarz schimmernde Gewässer nur als Maran – der Nachtmahr – bekannt. Gemeinsam sind Greta, Alex und Tochter Smilla auf dem See unterwegs und verbringen ein typisches Urlaubswochenende, bis zu dem Moment zumindest, als Alex und Smilla beschließen, eine kleine, unbewohnte Insel zu erkunden und Great im Boot zurückbleibt. So sitzt und wartet sie, hängt ihren Gedanken nach und später, ohne zu wissen, wie viel Zeit vergangen sein mag, ist sie sich bloß einer Sache gewiss: Alex und Smilla werden nicht zurückkommen. Es beginnt eine verzweifelte Suche, nach den Vermissten, aber auch nach der Wahrheit, denn mehr und mehr bekommt Greta das Gefühl, sich selbst nicht trauen zu können. Und was mag schon wirklich passiert sein auf der von Dickicht überwucherten Insel…

Auch als ich mich aufrichte, ist nicht das geringste Geräusch zu hören. Keine Stimmen, kein Gelächter. Nicht einmal mehr der Seetaucher. Ich bleibe eine Weile so sitzen, völlig regungslos, und lausche einfach nur. Und dann, ganz plötzlich, weiß ich es. Für diese Erkenntnis muss ich keine nervöse Runde über die Insel drehen, sie suchen und verzweifelt ihre Namen rufen. Nein, ich brauche nicht mal aufzustehen und aus dem Boot zu steigen, um es mit Sicherheit zu wissen.
Alex und Smilla werden nicht zurückkommen. Sie sind verschwunden.

Rezension:

Selten hat der Begriff "Psychothriller", der wie sich das gehört auf dem Cover von Die Vermissten prangt, so gut gepasst wie hier und selten ging der eigentliche Psychothrill so sehr von der Protagonistin – in diesem Fall der Frau und Ich-Erzählerin Greta – aus wie hier, denn während sich die ersten paar Seiten noch beschaulich und normal ausnehmen, dauert es nicht lange, bis das titelgebende Ereignis eintritt und Mann Alex nebst Tochter Smilla auf einer einsamen Insel spurlos verschwinden. Wer jetzt nämlich meint, dass Greta sich an die Polizei wenden und eine großangelegte Suchaktion gestartet würde, der täuscht sich gewaltig, denn als Leser ist man ja stets auf die Informationen des Erzählers oder hier der Erzählerin angewiesen und während selbige anfangs noch einen durchaus resoluten und zurechnungsfähigen Eindruck macht, werden sowohl ihre Handlungen als auch Gedankengänge zunehmend fahriger und unzusammenhängender, bis man sich ähnlich der Protagonistin bald nicht mehr sicher wähnt, ob das, was sie da schildert, wahrhaftig der Realität entspricht oder lediglich ihrer Fantasie entspringt, wodurch auch das ganze Szenario an sich – wir befinden uns an einem menschenverlassenen Ferienort außerhalb der Urlaubssaison – zunehmend bedrohlicher wirkt.

Mit einem Keuchen ziehe ich die Hand zurück und richte mich hastig auf. Was schleichen sich hier eigentlich für komische Gedanken und Wahrnehmungen in meinen Kopf? Das müssen die Reste von Alex’ Gruselgeschichten sein, die noch in meinem Bewusstsein herumspuken. Die Geschichten vom Maransee und seinen bösen Kräften. Rasch gehe ich weiter, rufe mir selbst in Erinnerung, dass diese Erzählungen übernatürlicher Quatsch sind, vermischt mit alten Schauermärchen, mehr nicht. Trotzdem kann ich es mir nicht verkneifen, mir beim Gehen mehrfach über die Schulter zu blicken. Meine Beine pflügen schneller und schneller durchs Gras, bis ich beinahe renne.

Nichtsdestotrotz peitscht die Geschichte unerbittlich voran und man wird sich dem entstehenden Sog kaum entziehen können, während Greta immer weiter in die Schatten stolpert und sich in Ungereimtheiten und Irrationalitäten zu verheddern droht, was wiederum auch zur Folge hat, dass man selbst permanent am Rätseln ist, was sich hinter der Sache verbirgt, was Alex und Smilla zugestoßen sein mag und wer dafür verantwortlich ist oder ob ihnen überhaupt etwas zugestoßen ist oder oder oder. So wirkungsvoll und effektiv kommt dann auch ein vermeintlicher Twist nach nicht ganz einem Drittel des Buches, weil man sich plötzlich – aber nur kurzfristig – auf der sicheren Seite wähnt und meint, verstanden zu haben, was vor sich geht, doch der Eindruck wird ein ums andere Mal täuschen, ähnlich wie die ungleich kürzeren Kapitel, gänzlich in kursiver Schrift gedruckt, bis zuletzt Rätsel aufgeben werden, denn die kryptischen Botschaften, ebenfalls von einer (derselben?) Ich-Erzählerin stammend, lassen sich nur schwer in einen Kontext setzen, bevor man die Fassade nicht vollends durchbrochen hat.

Atmosphärisch ist der Autorin Caroline Eriksson bei Die Vermissten, das sich rasch zum Überraschungs-Bestseller mauserte, ein wahres Prachtstück gelungen und speziell wenn sich gegen Ende die einzelnen Versatzstücke zu verzahnen beginnen, mag man das Staunen gar nicht mehr drangeben, wie effizient und effektiv teils scheinbar belanglose Gedankenfetzen plötzlich allesamt Sinn ergeben und winzige wie gleichwohl wichtige Mosaikstücke in einem literarischen Puzzle sind, das seinesgleichen sucht. Dafür bedient sie sich zahlloser Miniaturen, kleinen, teils verstörenden Szenen, die sich regelrecht ins Gehirn brennen, weshalb es später umso leichter fällt, sie in den richtigen Kontext zu setzen, was zusätzlich dadurch begünstigt wird, dass ihr Roman mit nicht einmal 300 Seiten doch tendenziell ziemlich kurz ausfällt, was man begrüßen darf, da die kurzen, über die Maßen oft mit einem Cliffhanger endenden Kapitel regelrecht dazu verleiten, das Buch bestmöglich in einem Rutsch durchzulesen und diese Wirkung zu erreichen ist speziell für einen Thriller wohl mit eine der höchsten Ehrungen.

In mir regt sich ein unangenehmes Gefühl. Es könnte Widerwillen sein. Oder ist es Reue? Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, es anders machen, es ungeschehen machen könnte … Ich schüttle dieses Gefühl ab und werfe noch einen letzten Blick über die Schulter. Ich stelle mir zwei Silhouetten vor, eine größer und eine kleiner, wie sie sich aus der Finsternis herauslösen und unter lautem Rufen und Lachen auf mich zurennen. Aber dort ist niemand, es kommt niemand.

Wenn man überhaupt etwas zu bemängeln haben wollen würde an Die Vermissten, dann wäre das wohl am ehesten die in direktem Vergleich zu allem Vorangegangenen regelrecht profan wirkende Auflösung, denn während im eigenen Kopf die Geschichte Kapriole um Kapriole zu schlagen beginnt und jeder Erklärungsversuch noch abstruser, noch fantastischer wird, muss sich das eben schlussendlich an der im Buch propagierten Realität messen lassen und in dieser Hinsicht schwächelt Erikssons Roman am Ende ein wenig, nicht so sehr allerdings, als dass es einem das vorangegangene Lesevergnügen verleiden würde, weshalb ich nicht umhin komme, eine unbedingte Empfehlung auszusprechen, so man denn dem Genre auch nur ein Fünkchen abgewinnen kann oder gleich mit einem ungemein überzeugenden Vertreter starten möchte. Über den Inhalt schweige ich mich ansonsten ganz bewusst aus, denn je weniger man weiß, umso effektiver vermag sich das Geschehen in all seinem Wendungsreichtum zu entfalten.

Fazit & Wertung:

Mit Die Vermissten ist Autorin Caroline Eriksson ein ungemein wendungsreicher und vor allem rätselhafter Psychothriller voller falscher Fährten und verwirrender Anspielungen gelungen, der sich aber schlussendlich zu einem stimmigen und nachvollziehbaren Ganzen fügt, wenn das Ende auch leider weit profaner scheint als die imaginierten Gedankenspiele, zu denen die vielen falschen Fährten innerhalb der Erzählung anregen. Das schmälert den Lesegenuss aber kaum, so dass es sich um eine unbedingte Empfehlung für Genre-Freunde und Interessierte handelt.

9 von 10 fragmentarischen, verwirrenden Erinnerungen

Die Vermissten

  • Fragmentarische, verwirrende Erinnerungen - 9/10
    9/10

Fazit & Wertung:

Mit Die Vermissten ist Autorin Caroline Eriksson ein ungemein wendungsreicher und vor allem rätselhafter Psychothriller voller falscher Fährten und verwirrender Anspielungen gelungen, der sich aber schlussendlich zu einem stimmigen und nachvollziehbaren Ganzen fügt, wenn das Ende auch leider weit profaner scheint als die imaginierten Gedankenspiele, zu denen die vielen falschen Fährten innerhalb der Erzählung anregen. Das schmälert den Lesegenuss aber kaum, so dass es sich um eine unbedingte Empfehlung für Genre-Freunde und Interessierte handelt.

9.0/10
Leser-Wertung 6.33/10 (3 Stimmen)
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Weitere Details zum Buch und der Autorin findet ihr auf der Seite des Penguin Verlag. Dort findet sich übrigens auch eine Leseprobe.

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Die Vermissten ist am 08.08.16 als Klappenbroschur im Penguin Verlag erschienen. Hat der Artikel euer Interesse geweckt, dann bestellt doch über den Link und unterstützt damit das Medienjournal!

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