Review: Endgültig | Andreas Pflüger (Buch)

Und weiter geht die wilde Fahrt des seit Anfang des Jahres – ich bitte, sich das mal auf der Zunge zergehen zu lassen – täglichen Bloggens, heute zur Abwechslung mal wieder mit einer Buch-Kritik, die ich mir auf Empfehlung hin zu Gemüte geführt und regelrecht verschlungen habe. Warum, wieso, weshalb, könnt ihr aber natürlich nachfolgend in aller Ausführlichkeit nachlesen.

Endgültig

Endgültig, DE 2016, 459 Seiten

Endgültig von Andreas Pflüger | © Suhrkamp Verlag
© Suhrkamp Verlag

Autor:
Andreas Pflüger
Übersetzer:
entfällt; Originalausgabe

Verlag (D):
Suhrkamp Verlag
ISBN:
978-3-518-42521-3

Genre:
Krimi | Thriller

 

Inhalt:

»Wir beginnen jetzt unseren Landeanflug auf Berlin-Schönefeld. Bitte klappen Sie die Tische hoch und bringen Sie die Lehnen in eine aufrechte Position.«
»Na toll !«
Als der Sitznachbar Aaron wütend den Kaffeebecher zuwirft, wird ihr klar, dass sie ihn halbvoll auf dem Tisch vergessen und über die Hose des Mannes gekippt haben muss.
»Sind Sie blind ?« faucht er.
»Ja.«

Jenny Aaron war einst Teil einer international operierenden und bestens ausgebildeten Eliteeinheit, in eingeweihten Kreisen bloß als "Die Abteilung" bekannt, doch als vor fünf Jahren ein Job in Barcelona gnadenlos aus dem Ruder lief, ließ Aaron nicht nur ihren damaligen Freund Niko zurück, sondern verlor während ihrer Flucht auch ihr Augenlicht. Mit ihrer Zeit bei der Abteilung war es vorbei und es brauchte lange, bis Aaron ins Leben zurückkehrte und als Vernehmungsspezialistin beim BKA in Wiesbaden eine neue Berufung fand. Fast glaubte sie, mit ihrer traumatisierenden Vergangenheit abgeschlossen zu haben, auch wenn sie sich noch immer nicht an den tragischen Abend erinnern kann und noch immer an ihr nagt, Niko seinerzeit zurückgelassen zu haben, doch als Reinhold Boenisch – mit dem sie ebenfalls eine gemeinsame Vergangenheit verbindet – eines Abends im Strafvollzug seine Gefängnispsychologin ermordet und äußert, "nur mit Frau Aaron" reden zu wollen, begibt sie sich in den Flieger nach Berlin, nicht ahnend, dass ihre Vergangenheit bereits dabei ist, sie einzuholen…

Rezension:

Nicht von ungefähr fühlt man sich bei Jenny Aaron, Andreas Pflügers Hauptfigur in seinem Thriller Endgültig, recht bald an Daredevil erinnert – wofür es der Referenzierung im Buch selbst mittels eines Comics-Bandes kaum bedurft hätte – , denn nicht nur sind sowohl Murdock als auch Aaron blind, sondern scheinen über schier übermenschliche Fähigkeiten zu verfügen, was sich in diesem Fall durch die gesamte Geschichte zieht und was man zugegebenermaßen mögen muss, um Spaß an der Story zu haben, denn nicht nur Aaron sondern auch ihre Freunde bei der fiktiven Spezialeinheit, schlicht "Die Abteilung" genannt, strotzen nur so vor Raffinesse, Empathie, Intuition und beeindruckenden körperlichen wie mentalen Fähigkeiten, ganz so wie der große Gegenspieler namens Holm, der dem natürlich in nichts nachstehen darf, um einen glaubhaften und vor allem furchteinflößenden Schurken geben zu können, wobei das Pflüger ohne Zweifel mit Bravour gelungen ist, zumal die Figur des Holm von innerer Zerrissenheit, eisernem Willen und einer differenzierten Motivation getrieben wird und eben nicht als purer Sadist oder Wahnsinniger inszeniert wird, sondern es auf einer sehr persönlichen Ebene auf Jenny Aaron abgesehen hat, die wie gesagt selbst als Blinde mitnichten so hilflos ist, wie man das als Unbedarfter meinen würde.

Als sie sicher ist, dass er sie nicht mehr hören kann, schnalzt sie, ein Power-Klick mit offenen O-Lippen. Aaron lokalisiert einen Lichtmast. Oder zwei ? Links eine massive Säule. Werbung ? Belüftung ? Rechts steht ein Bus, laufender Motor, johlende Schulklasse, Wortfetzen, skandinavische Sprache.
Das, was Niko Sehen nennt, ist auch nur ein Echo aus Licht. Darum sieht er den Lichtmast, die Säule, den Bus, die Schüler.

Hat man sich also einmal damit angefreundet, dass die Protagonisten in Endgültig gefühlt etwas besser, etwas pfiffiger, etwas unnachgiebiger sind als man das von realen Menschen erwarten würde, erwartet einen ein uneingeschränkt empfehlenswerte rund packender Thriller, der seine Faszination natürlich in weiten Teilen aus Aarons Blindheit generiert, die hier so überzeugend wie selten beschrieben und skizziert wird, weshalb es leichtfällt, sich in die Figur hineinzuversetzen, die sich beispielsweise mittels Klicksonar und ihrer unübertrefflichen Intuition auch schnell in unbekannten Arealen zurechtzufinden weiß. Die Geschichte selbst ist dabei zunächst alles andere als leicht zu durchschauen, denn was fünf Jahre zuvor mit einem missglückten Einsatz – der Aaron ihr Augenlicht kostete – seinen Anfang nahm, mündet zunächst in einen beinahe generisch zu nennenden Aufhänger für Aarons Rückkehr nach Berlin und zur Abteilung, doch bildet dies eben nur den Ausgangspunkt für eine weitaus undurchschaubarere Geschichte, die noch weit vor dem Einsatz in Barcelona ihren Anfang nahm. In Zusammenhang mit der zunächst erst langsam in Fahrt kommenden Story darf ich aber auch die Erwähnung des Films Mr. Brooks nicht verschweigen, über die ich mich nicht nur sehr gefreut habe, sondern die auch noch nicht unerheblich zur sich langsam entfaltenden Handlung beiträgt.

Diese allerdings kann zuweilen durchaus ein wenig verworren wirken, denn gemessen an Aarons nur bruchstückhaftem Erinnerungsvermögen und der eingebüßten Fähigkeit, sehen zu können, erinnert sie sich zuweilen unvermittelt an längst Vergangenes und die Handlung springt unversehens Jahre zurück in die Vergangenheit, ohne dass dies im Text kenntlich gemacht würde, wobei ich dies als raffiniertes Stilmittel des Autors werte, denn so befremdlich diese Zeitsprünge zunächst wirken mögen, so assoziativ sind sie schließlich in die Erzählung gewoben, dass man nicht nur Aaron sondern auch ihren früheren Freunden und Kollegen von Niko über Pavlik und dessen Frau Sandra im Verlauf der Handlung merklich näher kommt, ohne dass es dafür ausufernder Rückblenden oder Dialoge bedürfte. Zudem sind diese sich erst langsam verdichtenden Erinnerungsfetzen auch dahingehend wichtig, die Motivation Holms zu durchschauen, den ja wie gesagt eine sehr persönliche Fehde mit Aaron verbindet, auch wenn sie ebenso wenig weiß, was den brandgefährlichen Mann umtreiben mag, der ihr vielleicht als einziger auf der Welt die Erinnerung an Barcelona zurückzugeben imstande ist, denn Aarons Erinnerung wird zunehmend lückenhafter, während sie sich an den tragischen Abend selbst überhaupt nicht erinnern kann.

An dem Tag, an dem sie zum ersten Mal wagte, die Rehaklinik allein zu verlassen, gab es nur ein Ziel : zu ihm. Die halbe Nacht hatte sie sich auf den Augenblick gefreut, in dem er die Tür öffnen und sie ihn überraschen würde. Aaron wusste, dass er zuhause sein würde, weil ein Freund ihn besuchen wollte. Sie war so stolz, als sie den richtigen Bus nahm und sich nach dem Aussteigen an den erlernten Leitlinien orientierte, sich wie in der Kindheit von Gerüchen und Lauten führen ließ und endlich wusste: Ich bin daheim.

So ist Endgültig zwar ein lupenreiner Thriller mit zunehmend adrenalingeschwängerter Handlung, aber eben auch zu gleichen Teilen die Geschichte von Jenny Aaron, was mir persönlich – wie schon des Öfteren erwähnt – sehr zugesagt hat, denn nichts ist langweiliger als ein gesichtsloser Ermittler, wie ich finde. Neben Aaron, der man neben der eigentlichen Handlung und den Rückblenden auch noch durch einzelne Aufzählungen näher kommt, was Aaron mag oder nicht – einer der weiteren cleveren Kniffe des Buches, der die Handlung gekonnt aufbricht und gleichzeitig Aaron auf unkomplizierte Art und auf einer persönlichen Ebene weiter charakterisiert – sind es vor allem die weiteren Mitglieder der Abteilung und hier allen voran der altgediente Pavlik, die sich recht bald ins Herz des Lesers zu spielen wissen, was es umso erfreulicher macht, wenn Pflüger im Nachwort andeutet, dass es sich nicht um das letzte oder einzige Abenteuer von Jenny Aaron handeln wird, denn auch wenn der Handlung im letzten Drittel zuweilen ein wenig die Luft auszugehen droht (was sich mit dem dann anschließenden Finale gänzlich erübrigt), ist die Story doch in ihrer Gänze überzeugend und punktet vor allem in Sachen Figurenzeichnung und Einfallsreichtum, denn allein schon die Welt der blinden Aaron dergestalt für den Leser erfahrbar zu machen, ist schon eine Klasse für sich und die vielen Details in diesem Zusammenhang künden von ausgiebiger und akribischer Recherchearbeit.

Fazit & Wertung:

Andreas Pflügers Endgültig wird nicht nur durch seine blinde Hauptprotagonistin Jenny Aaron und deren ungewöhnliche "Sicht" auf die Welt, sondern auch durch den ausgeklügelten und verschachtelten Plot voller Rückbezüge und Querverweise zu einem ungewöhnlichen wie lohnenswerten Thriller, der sich mehr als einmal in Richtung Superheldenstory neigt, ohne dabei je gänzlich die Bodenhaftung zu verlieren. Gerne möchte man mehr von Aaron und der schlicht "Die Abteilung" betitelten Organisation lesen.

9 von 10 mittels Klicksonar versprengte Echos, die die Welt modellieren

Endgültig

  • Mittels Klicksonar versprengte Echos, die die Welt modellieren - 9/10
    9/10

Fazit & Wertung:

Andreas Pflügers Endgültig wird nicht nur durch seine blinde Hauptprotagonistin Jenny Aaron und deren ungewöhnliche "Sicht" auf die Welt, sondern auch durch den ausgeklügelten und verschachtelten Plot voller Rückbezüge und Querverweise zu einem ungewöhnlichen wie lohnenswerten Thriller, der sich mehr als einmal in Richtung Superheldenstory neigt, ohne dabei je gänzlich die Bodenhaftung zu verlieren. Gerne möchte man mehr von Aaron und der schlicht "Die Abteilung" betitelten Organisation lesen.

9.0/10
Leser-Wertung 4/10 (3 Stimmen)
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Weitere Details zum Buch und dem Autor findet ihr auf der Seite des Suhrkamp Verlages. Dort findet sich übrigens auch eine Leseprobe.

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Endgültig ist am 07.03.16 als Hardcover im Suhrkamp Verlag erschienen. Hat der Artikel euer Interesse geweckt, dann bestellt doch über den Link und unterstützt damit das Medienjournal!

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