Review: Central Station | Lavie Tidhar (Buch)

Da bin ich auch schon wieder, nachdem ich heute noch einen recht erfolglosen Versuch unternommen habe, wieder zur Arbeit zu gehen, denn wir haben gerade Handwerker da, die natürlich direkt neben meinem Büro permanent und in einer Tour bohren, was ich noch nicht wirklich gut verpacken konnte im noch immer angeschlagenen Zustand, weshalb ich nach mageren zwei Stunden dann doch wieder die Segel gestrichen habe. Eine Buch-Rezension gibt es aber natürlich trotzdem, denn die ist selbstredend schon lange fertig – so wie der überwiegende Teil der noch folgenden Reviews für den Rest der Woche – weshalb ich euch zumindest nicht auf dem Trockenen sitzen lassen muss.

Central Station

Central Station, USA 2016, 352 Seiten

Central Station von Lavie Tidhar | © Heyne
© Heyne

Autor:
Lavie Tidhar
Übersetzer:
Friedrich Mader

Verlag (D):
Heyne
ISBN:
978-3-453-31881-6

Genre:
Science-Fiction | Drama

 

Inhalt:

Die Stadt hatte einmal Tel Aviv geheißen. Im Süden ragte die Central Station weit hinauf in die Atmosphäre, umsäumt von einem Netz stillgelegter alter Autobahnen. Das Dach der Station lag so hoch, dass es sich allen Blicken entzog; mit seiner maschinenglatten Oberfläche diente es stratosphärischen Fahrzeugen zum Starten und Landen. Wie Kugeln schossen Aufzüge in der Station auf und ab. In der sengenden mediterranen Sonne um den Weltraumbahnhof herrschte das geschäftige Treiben eines Marktes mit Händlern, Besuchern, Bewohnern und der üblichen Mischung aus Taschendieben und Identitätsfälschern.

Nach Jahren des selbstgewählten Exils im All kehrt Boris Chong zur Central Station in Tel Aviv zurück, diesem Schmelztiegel der Kulturen und Einflüsse, von dem einst die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist. Doch Boris kehrt nicht nur in die Heimat zurück, sondern auch zu seiner Jugendliebe Miriam Jones, einer Anhängerin des Heiligen Cohen der Anderen und Betreiberin einer Shebeen. Ebenfalls in Central Station beheimatet ist Miriams Bruder Achimwene, der ob seines fehlenden Netzknotens als behindert gilt und keinen Zugang zur digitalen Welt hat, derweil ausgerechnet er alsbald einer Strigoi – einer Datenvampirin – namens Carmel begegnen wird, doch sind das nur einige der illustren Gestalten, die sich inmitten zahlloser Kulturen, Glaubensrichtungen und Daseinsformen in dieser bis ins All und hinein in die Digitalität reichenden Metropole tummeln…

Rezension:

Kommen wir heute zu einem Buch der besonderen Art, denn Central Station von Lavie Tidhar lässt sich sicherlich mit kaum etwas vergleichen, was ich in den letzten Jahren so gelesen habe, wobei sich diese Aussage ausdrücklich nicht nur auf den Bereich der Science-Fiction beschränkt, wie ich unterstreichen möchte. Kommen wir aber erst einmal kurz zu einer leicht irreführenden Werbebotschaft, denn auf dem Cover (siehe oben) wird großspurig damit geworben, es handele sich um den Gewinner des World Fantasy Award, was nur insofern richtig ist, wenn man die Aussage auf den Autor bezieht, denn der hat tatsächlich 2012 diesen begehrten Preis abgestaubt, allerdings für seinen Roman Osama und nicht, wie man uns hier suggerieren möchte, Central Station, was vier Jahre später entstanden ist. Nun habe ich mich aber natürlich nicht wegen dieses Marketing-Schachzuges zur Lektüre entschieden, sondern weil mich Titel, Cover und Inhaltsangabe angesprochen haben, wollte diesen Umstand aber nicht unerwähnt lassen, damit sich niemand getäuscht fühlt. Meine Erwartungen hinsichtlich des Buches wurden leider auch nur bedingt erfüllt, wie ich gestehen muss, auch wenn es sich um ungemein einfallsreiche, clevere und weitsichtige Science-Fiction handelt, die so weit fernab von Space Operas und dergleichen agiert, dass man es kaum in Worte fassen kann, nur bringt das eben auch mit sich, dass man hier vielleicht weit eher von einem Drama in futuristischem Setting sprechen sollte, das noch dazu im Grunde als Kurzgeschichtensammlung betrachtet werden kann, auch wenn sich im Laufe der Zeit ein gewisser roter Faden erkennen lässt.

Drinnen saßen nur einige wenige Stammgäste: zwei freundlich plaudernde Dockarbeiter, die sich nach der Schicht im Weltraumbahnhof eine Shisha teilten und ein Bier schlürften, ein Tentakel-Junkie, der in einer Wasserwanne herumlümmelte und einen Arak trank, und Isobel, die Tochter ihrer Freundin Irena Chow, die einen Minztee vor sich stehen hatte und in Gedanken versunken schien. Beim Eintreten berührte Miriam sie leicht an der Schulter, aber das Mädchen bewegte sich überhaupt nicht. Sie steckte tief in der Virtualität, sprich, in der UNTERHALTUNG.

So widmet sich im Grunde ein jedes Kapitel des Buches einer einzelnen Figur, auch wenn diese sich durchaus gegenseitig begegnen und bedingen, so dass die Überleitungen überwiegend durchaus gelungen sind, doch davon zu sprechen, eine fortlaufend erzählte Geschichte offeriert zu bekommen, wäre im Grunde zu hoch gegriffen, weshalb ich auch den Klappentext letztlich für reichlich irreführend halte. Nichtsdestotrotz hatte ich aber meine Freude mit Central Station, denn Tidhar versammelt hier eine ganze Schar kluger Gedanken und Überlegungen, skizziert vorrangig, wie es in einer von ihm erdachten Zukunft mit der Religion weitergehen könnte, die sich nunmehr eben auch auf die Digitalität und von Menschenhand erschaffene Götter erstreckt, derweil er auch eine Strigoi namens Carmel in Erscheinung treten lässt, einen Vampir also, nur dass es sich hier mitnichten um ein Blut saugendes, sondern ein Daten vereinnahmendes Geschöpf handelt, dessen Ursprünge in lange vergessenen Kriegen zu suchen sind, während allerorten auch von den Anderen die Rede ist, digitalen oder zumindest grundsätzlich andersartigen Wesenheiten, die teils symbiotische Beziehungen mit Menschen einzugehen imstande sind. Das Internet wiederum hat sich längst zu einer parallel der Wirklichkeit verlaufenden zweiten Daseinsebene gemausert und ein Großteil der Bevölkerung ist mit sogenannten Netzknoten versehen, um an der UNTERHALTUNG (Schreibweise aus dem Buch übernommen) teilnehmen zu können, was de facto Leute wie den Buchhändler Achimwene, die über keinen entsprechenden Zugang zur Digitalität verfügen, in den Augen der Bevölkerung zu Behinderten macht.

Darüber hinaus hat es hier auf der Straße bettelnde Robotniks, tote Menschen, in robotische Körper gepresst, um als widerstandsfähige Kampfmaschinen im Krieg zu dienen, die, nun, da der Krieg vorbei ist, von der Regierung und Gesellschaft ein tristes und abgeschiedenes Dasein fristen, während einzelne Teile ihrer Selbst vor sich hinrosten. Damit nicht genug – und hier sind wir dem Fantasy-Genre näher als bei all den anderen Dingen, die Tidhar in seine Handlung bettet – gibt es noch den Fluch der Familie Chong, auch Weiweis Wahn genannt, unter dem auch Boris leidet und der von einer Anderen herbeigeführt worden ist und mit sich bringt, dass jedes Mitglied der Familie Chong sich an alles erinnert, was ihm oder einem der Vorfahren widerfahren ist, seit Weiwei der Wunsch erfüllt worden ist, dass man sich "an ihn erinnern" möge. All das sind aber wie gesagt nur Bruchstücke dessen, was in Central Station thematisiert wird und entsprechend abwechslungsreich und staunenswert ist der Reigen an Geschichten geraten, so dass auch keine Langeweile aufzukommen droht, hat man sich einmal mit der episodischen Erzählweise arrangiert.

Am Schrein kniete eine einsame Gestalt. Miriam Jones von der Shebeen Mama Jones zündete eine Kerze an und legte als Opfer eine kaputte elektronische Schaltung nieder, die vielleicht aus einer antiquierten TV-Fernbedienung stammte. Nutzlos und veraltet.
»Heiliger Cohen, bewahre uns vor der Pest und dem Wurm und vor der Aufmerksamkeit der Anderen «, flüsterte Mama Jones, »und schenke uns Mut, damit wir unseren eigenen verschlungenen Weg in der Welt finden.«
Der Schrein gab keine Antwort. Aber das erwartete Mama Jones auch nicht.

Nichtsdestotrotz hätte aus diesem Buch doch so viel mehr werden können, denn so spannend die Ideen sein mögen, so wenig weiß die eigentliche, kaum vorhandene Geschichte in ihren Bann zu schlagen, da sich teils ganze Kapitel der Vorstellung neuer Figuren widmen, die dann wiederum teils nur noch am Rande überhaupt Erwähnung finden. Ähnlich verhält es sich schließlich auch mit den großen Fragen danach, was es mit beispielsweise dem Heiligen Cohen der Anderen auf sich hat oder wo genau der Ursprung der Strigoi-Krankheit liegt, derweil ich mich auch bezüglich des weiteren Schicksals zahlreicher Figuren nach Beendigung des Romans ärgerlich alleingelassen gefühlt habe, denn wenn schon nichts grundsätzlich gegen eine als Episoden-Roman aufgebaute Handlung spricht, hätte ich es doch zumindest begrüßt, wenn die einzelnen Handlungsstränge und Geschichten auch zu einem zufriedenstellenden Ende gebracht werden. So vermag Central Station zwar zum Nachdenken anzuregen und fasziniert mit seiner lebendig wirkenden Welt und zahllosen klugen Gedanken ungemein, doch als erzählende Prosa muss sich das Werk den Vorwurf gefallen lassen, auf dramaturgischer Ebene oftmals und in ärgerlicher Weise zu versagen.

Fazit & Wertung:

Lavie Tidhars Central Station ist angenehm unkonventionelle Science-Fiction erster Güte mit einem schillernden Figuren-Ensemble und zahllosen Ideen und Ansätzen, das zwar einerseits zu faszinieren vermag, andererseits aber dahingehend enttäuscht, dass kaum eine zusammenhängende Geschichte erzählt wird, sondern dass es sich im Kern um ein Sammelsurium lose miteinander verknüpfter Kurzgeschichten handelt, die oft nichts anderes zum Thema haben, als Herkunft und Beweggründe ihrer Figuren zu umreißen. Zwar weiß jede Geschichte für sich genommen durchaus zu überzeugen, doch hätte dem Werk ein ausgeprägterer roter Faden mitnichten geschadet, zumal viele der angerissenen Storylines kaum zu einem befriedigenden Ende gebracht werden.

7 von 10 Geschichten aus dem Leben in der Central Station

Central Station

  • Geschichten aus dem Leben in der Central Station - 7/10
    7/10

Fazit & Wertung:

Lavie Tidhars Central Station ist angenehm unkonventionelle Science-Fiction erster Güte mit einem schillernden Figuren-Ensemble und zahllosen Ideen und Ansätzen, das zwar einerseits zu faszinieren vermag, andererseits aber dahingehend enttäuscht, dass kaum eine zusammenhängende Geschichte erzählt wird, sondern dass es sich im Kern um ein Sammelsurium lose miteinander verknüpfter Kurzgeschichten handelt, die oft nichts anderes zum Thema haben, als Herkunft und Beweggründe ihrer Figuren zu umreißen. Zwar weiß jede Geschichte für sich genommen durchaus zu überzeugen, doch hätte dem Werk ein ausgeprägterer roter Faden mitnichten geschadet, zumal viele der angerissenen Storylines kaum zu einem befriedigenden Ende gebracht werden.

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Weitere Details zum Buch und dem Autor findet ihr auf der Seite von Heyne.

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Central Station ist am 09.01.18 bei Heyne erschienen. Hat der Artikel euer Interesse geweckt, dann bestellt doch über den folgenden Link und unterstützt damit das Medienjournal!

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