Kommen wir heute mit nicht einmal einer Woche Verspätung zu dem Buch, dessen Besprechung ich bereits vollmundig angekündigt hatte, bevor mir – mal wieder – das Leben dazwischenkam.
Anarchie Déco
Anarchie Déco, DE 2021, 480 Seiten
© FISCHER Tor
Judith Vogt
Christian Vogt
entfällt
FISCHER Tor
978-3-596-00221-4
Fantasy | Drama | Mystery | Krimi | Abenteuer
Inhalt:
Die junge Physikerin Nike Wehner ist eine der ersten, die sich im Berlin der 1920er-Jahre mit den jüngst entdeckten magischen Phänomenen auseinandersetzt, die aus einer Verquickung von Wissenschaft und Kunst resultieren und sich bislang nur schwer reproduzieren lassen. Auch wenn sich der große, wissenschaftliche Durchbruch für ihre Forschungen noch nicht so recht einstellen mag, ist sie doch zumindest polizeiliche Beraterin geworden und bildet gemeinsam mit dem kurz vor der Pensionierung stehenden Kommissar Seidel eine Art magische Spezialeinheit, die Unerklärlichem auf den Grund geht. Alsbald stößt noch der Prager Bildhauer Sandor Černý zum Team, nachdem eine halb in Marmor steckende Leiche entdeckt wird, wobei es sich hier lediglich um den ersten von zahlreichen magischen Zwischenfällen handelt, der Nike deutlich macht, dass man auf den Straßen Berlins anscheinend schon weiter ist mit dem Meistern magischer Möglichkeiten, als sie es bislang im Labor geschafft hat…
Rezension:
Mit Anarchie Déco hat sich das Autorenduo Judith und Christian Vogt, das hinter dem offenen Pseudonym J. C. Vogt steckt, thematisch und erzählerisch einiges vorgenommen, denn nicht nur kredenzen sie eine im Berlin der 1920er verortete Geschichte, die in einer alternativen Zeitlinie die Entdeckung der Magie ins damalige Leben integriert (und hierbei historische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und der Wissenschaft zumindest Gastauftritte absolvieren lässt), nein, sie versuchen sich gleichsam auch an einer Kriminalgeschichte, einem Sittengemälde und einem zeitgeistlichen Abriss. Das schafft einerseits ein reichhaltiges und vielversprechendes Fundament, lässt die Story in meinen Augen aber auch zeitweise ein wenig überladen wirken, so dass beispielsweise der ausgewiesene Krimi-Part im Mittelteil dem Gefühl nach gänzlich ins Hintertreffen gerät. Das ist nicht grundsätzlich schlecht oder störend, aber eben auffällig, dass ab einem gewissen Punkt Nike und Sandor weit eher damit beschäftigt sind, das Berliner Nachtleben unsicher zu machen, als sich der eigentlichen Ermittlungsarbeit zu widmen, die ohnehin eher neue Mysterien und Rätsel anhäuft, als nur einen Teil des Falles aufzuklären.
Seidel bildete so etwas wie eine Einmannsonderkommission, der Nike als Hilfswissenschaftlerin zugeteilt worden war. Während ihre Aufgabe darin bestand herauszufinden, ob es bereits Leute gab, die die Phänomene absichtlich reproduzierten, hatte Seidel die Order des Polizeipräsidenten, die bislang unter dem Begriff »metaphysische Kriminalität« zusammengefassten Aktivitäten sofort zu melden, damit darüber entschieden werden konnte, wie politisch mit den neuen Phänomenen zu verfahren sei.
Bislang war ihnen allerdings kaum etwas untergekommen, das die Aufmerksamkeit des Polizeipräsidenten oder des Justizministers verdiente. Nun, ein in Marmor ertrunkener Toter mochte das ändern.
Nicht falsch verstehen, der Ausflug ins historische Berlin lohnt sich und man merkt dem Ganzen auch die immense Recherchearbeit an, die dahinterstecken muss, wodurch eben insbesondere die nächtlichen Ausflüge eine ganz eigene Magie und Sogwirkung entfalten. Dennoch steht und fällt ein Roman wie Anarchie Déco natürlich ein wenig mit der persönlichen Erwartungshaltung und ich für meinen Teil hätte mehr Magie, mehr Mystery, mehr Mordermittlung erwartet, derweil das Ganze zwischenzeitlich sowohl für Nike als auch Sandor mehr zum Selbstfindungstrip verkommt, denn während die eine ihre Sexualität verleugnet, ist sich der andere nicht im Klaren darüber, ob und inwieweit ein Anarchist in ihm steckt. Beides ohne Frage spannende Ansätze und Themen, die natürlich auch und insbesondere vor der Kulisse des pseudo-historischen Berlin zu glänzen wissen, aber eben auch Themen, die ich in der hier behandelten Breite nicht gebraucht hätte, wo ich mir doch im Grunde einen "einfachen" Urban-Fantasy-Roman erwartet hätte.
Jetzt gilt es natürlich, die schmale Gratwanderung zwischen persönlicher Erwartung – und damit einhergehend persönlichem Geschmack – und der schriftstellerischen Güte an sich zu meistern, denn Anarchie Déco ist in keiner Weise schlecht und auch unbedingt lesenswert, insbesondere was die kluge und vielschichtige Behandlung der vielen Themen betrifft, doch als Mischung aus Fantasy- und Kriminalroman hat er mich eben auch längst nicht so abgeholt, wie ich es mir im Vorfeld erhofft und erwartet hätte. Das beginnt schon damit, dass der Fall einer halb in Marmor versunkenen Leiche natürlich Fragen aufwirft und vom ersten Moment an ungemein spannend wirkt, doch wirkliche Ermittlungsarbeit kommt hier kaum zum Tragen und alsbald geht es in Richtung Nebenschauplätze und Privatem, bevor mit weiteren Mysterien das Ganze zwar angereichert, aber nicht wirklich vorangebracht wird. So driftet der Mittelteil meinem Gefühl nach streckenweise gänzlich in Richtung privater Eskapaden und Erlebnisse von Nike und Sandor ab, die sich in unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und Etablissements bewegen.
Sie zögerte. Sie ließ sich nicht gern duzen, meist fühlte sie sich besser, wenn Leute auf Distanz blieben.
»Ja, in Ordnung. Sandor. Ich bin Nike.«
»Schöner Name. Es gibt eine besonders schöne kopflose antike Statue von Nike im Louvre.«
»Ja, kopflose Frauen, da stehen die Männer drauf, nicht wahr?«, merkte Nike an, wurde aber vom blechernen Klang der Instrumente und dem ohrenbetäubenden Gegröle der Gäste im Nebenraum übertönt. Sie heftete ihren Blick auf die Spirituosen im Regal hinter der Theke, um nicht in diesem Meer aus Bubiköpfen, Wasserwellen, glitzernden Pailletten und Perlenmustern, Zigaretten, Lippenstiften und pseudoägyptischen Kajalmassakern zu ertrinken.
Auch hier entfaltet Anarchie Déco eine gewisse Faszination und vermittelt gekonnt das Gefühl von Sturm und Drang, von Aufbruch und Selbstbestimmung, brodelndem Wandel, unterschwelliger Aufregung und offenkundiger Koketterie, was ein schillerndes und einnehmendes Bild vom damaligen Berlin skizziert, dass durch den Faktor "Magie" nur behutsam modifiziert wird, doch geht darüber eben der Kriminal-Aspekt ziemlich verloren, bevor Judith und Christian Vogt die erzählerische Wende gelingt und sie im letzten Drittel noch einmal gehörig beidrehen und insbesondere der Magie einen ungewohnt prominenten Platz einräumen, nachdem sie bislang meist kaum über Taschenspielertrick oder Laborversuch hinausgekommen ist. Wahrscheinlich liegt ein Teil der Schuld, dass mich der Roman nicht gänzlich abzuholen gewusst hat, in meiner eigenen Erwartung begründet, doch mag das natürlich auch jene warnen, denen es ähnlich gehen könnte. Davon abgesehen kann ich die Lektüre wärmstens empfehlen, zumal wenn man weiß, was einen genau erwartet.
Anarchie Déco
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Magische Experimente - 7.5/10
7.5/10
Fazit & Wertung:
Mit Anarchie Déco gelingt Judith und Christian Vogt ein schillerndes und facettenreiches Zeitgeistdokument und Sittengemälde der 1920er, verfeinert und garniert mit einer faszinierenden Form der Magie, deren Erforschung noch in den Kinderschuhen steckt. Leider lassen die zahllosen Themen, Ideen und erzählerischen Schlenker den Roman fast ein wenig überladen wirken, was aber nicht heißen soll, dass der Ausflug ins damalige Berlin nicht zu verzaubern weiß.
Weitere Details zum Buch und dem Autor findet ihr auf der Seite der Fischer Verlage.
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Anarchie Déco ist am 25.08.21 bei FISCHER Tor erschienen. Hat der Artikel euer Interesse geweckt, dann bestellt doch über den folgenden Link und unterstützt damit das Medienjournal!