Review: Missing. New York | Don Winslow (Buch)

Heute mal nichts aus den Sparten Fantasy oder Science-Fiction, sondern ein waschechter, klassischer Krimi, noch dazu aus der Feder eines meiner Lieblingsautoren, den ich viel zu lange schmählich vernachlässigt habe.

Missing. New York
Frank Decker-Reihe 1

Missing New York, USA 2014, 400 Seiten

Missing. New York von Don Winslow | © Droemer Knaur
© Droemer Knaur

Autor:
Don Winslow
Übersetzer:
Chris Hirte

Verlag (D):
Droemer Knaur
ISBN:
978-3-426-30596-6

Genre:
Krimi | Thriller

 

Inhalt:

Ich reichte ihr die Hand, sie nahm sie, und ich warf einen Blick auf ihren Unterarm. Keine Verletzungsspuren an den Knöcheln. Keine Schwellungen, keine Bissmarken. Klinge ich wie ein Zyniker? Das bringt der Beruf so mit sich. Aber Kinder, besonders Mädchen, beißen, wenn sie sich wehren.

Eines Morgens verschwindet die fünfjährige Hailey Hansen aus dem Vorgarten ihrer Mutter und Frank Decker als Ermittler in Lincoln, Nebraska ist umgehend zur Stelle, um sich der Sache anzunehmen. Schnell werden umfangreiche Suchmaßnahmen eingeleitet und die Spezialisten vom FBI hinzugezogen, doch niemand findet das vermisste Mädchen, dessen Spur langsam zu erkalten droht, womit auch die Hoffnung schwindet, dass Hailey noch am Leben sein könnte. Als sich einige Wochen später ein ähnlich gearteter Entführungsfall ereignet, der zu einem schnellen wie grausigen Ende findet, scheint ein neuer Verdächtiger gefunden, doch auch diese spur verläuft im Sande. Nach und nach werden die ermittelnden Beamten von dem Fall abgezogen, doch Frank Decker ist nicht bereit, Hailey aufzugeben. Kurzentschlossen kündigt er seinen Job und folgt der vagen Spur quer durchs Land bis nach New York hinein. Bald wird im klar, dass es sich bei diesem bedauerlichen Einzelfall lediglich um die Spitze des Eisberges handeln könnte…

Rezension:

Es ist erschreckend viel Zeit vergangen – mehr als zwei Jahre – seit ich meinen letzten Winslow zur Hand genommen habe und so gab es kein langes Nachdenken, als ich vor einiger Zeit über Missing. New York stolperte, der – für mich als Suhrkamp-Leser noch etwas ungewohnt – nun bei Droemer Knaur sein Zuhause gefunden hat und Anfang des Jahres auch als Taschenbuch veröffentlicht worden ist (bekanntermaßen die von mir bevorzugte Darreichungsform). Was ich hingegen im Vorfeld nicht wusste war, dass es sich bei dem Buch einmal mehr um den Auftakt einer Reihe handelt, auch wenn die – wie bei Kriminalromanen ja durchaus üblich – sicherlich nur lose Anknüpfungspunkte bieten wird und sich hauptsächlich darauf stützt, dass man es mit dem immer selben Protagonisten, sprich Ermittler zu tun bekommt. In diesem Fall ist das Frank Decker, der anfänglich noch bei der Polizei in Lincoln, Nebraska beschäftigt ist und sich schließlich zugunsten der Suche nach der vermissten Hailey Hansen entscheidet, seinen Job an den Nagel zu hängen und den zunächst diffusen Spuren quer durchs Land zu folgen, fest in dem Glauben, sie womöglich doch noch zu finden.

Ich wollte, sie reagierten schneller.
Viel lieber mache ich mir unnötige Sorgen.
Weil ich die brutalen Fakten kenne. Fast fünfzig Prozent der Kinder, die von Entführern getötet werden, sterben in der ersten Stunde nach ihrem Verschwinden.
Die Zeit arbeitete nicht für uns.
Erst recht nicht für Hailey.

Auch wenn sich dieses Verhalten seitens Decker zunächst nicht objektiv erklären lässt, warum ihm ausgerechnet dieser Fall, dieses Mädchen so an die Nieren geht, gelingt es Winslow dennoch gut, glaubhaft zu vermitteln, dass Decker nicht anders kann, was der Figur eine Motivation verleiht, die spielend durch den rund 400 Seiten umfassenden Roman trägt, auch wenn der – mittlerweile wohl Winslow-typisch einiges an Aussparungen und Leerräumen enthält, so dass manches Kapitel kaum eine halbe Seite füllt. Um dieses Stilmittel allerdings könnte man als versierter Leser der Geschichten von Don Winslow wissen und freilich begünstigt dies die Plakette "Page Turner", die man auch Missing. New York unbesehen anheften kann, zumal sich der Roman im Grunde in mehrere große Abschnitte teilt, die, kaum droht es langweilig oder redundant zu werden, postwendend in die nächste Phase übergehen. So beweist der Autor anfänglich – für meinen Geschmack – großes Geschick, die Polizeiarbeit in einem Vermisstenfall zu umreißen und Spannung zu erzeugen, obwohl man doch genau weiß, dass Hailey mitnichten nach den ersten 100 Seiten gefunden werden wird, weshalb es dann eben nur folgerichtig für Plot und Dramaturgie ist, dass Decker sich aufmacht, andernorts sein Glück zu versuchen, zumal vieles dafür spricht, dass Hailey sich längst nicht mehr in Lincoln befindet, so sie denn noch am Leben ist.

Darüber wiederum lässt Winslow keinen Zweifel und lässt Hailey in knapp verfassten Zwischenspielen selbst in Erscheinung treten, die anfänglich zwar wenig Aussagekraft besitzen, im späteren Verlauf dem Leser aber einen nicht unerheblichen Wissensvorsprung verleihen, was den Verbleib des Mädchens anbelangt. Das führt zwar wiederum zu einiger Irritation den Plot-Fortgang betreffend, doch freilich fügt sich schlussendlich alles zu einem stimmigen Ganzen, auch wenn ich zugeben muss, dass die Story doch in mancher Hinsicht reichlich konstruiert wirkt und hier schließlich vieles beinahe zu gut ineinandergreift. Das ändert aber wiederum nichts an dem Umstand, dass sich insbesondere auf den letzten 100 Seiten von Missing. New York die Ereignisse regelrecht überschlagen, so dass man spätestens hier auch für etwaige Längen im Mittelteil entschädigt wird, wenn ein regelrechter Wettlauf sich Bahn bricht und Frank unter akuten Zugzwang gesetzt wird. So nervenaufreibend – und überzeugend – das Finale aber auch sein mag, ebenso wie die Schlussfolgerung, die Erzähler Frank Decker für sich aus dem Erlebten zieht, wirkt die Geschichte doch allein aufgrund ihrer Prämisse nicht eben neu oder sonderlich innovativ.

»Es kriegen alle Bescheid«, sagte Cerny.
Darauf konnte ich mich bei ihm verlassen.
»Sie sollen sich an die Standardfragen halten und auf die rechtskräftige Einwilligung zur Durchsuchung achten «, ermahnte ich ihn. »Aber wenn einer protestiert und einen Durchsuchungsbefehl verlangt, hören deine Jungs ein Kind im Haus schreien, und sie gehen rein. Ich mache das dann mit dem Richter klar.«

So kann man einerseits Don Winslow anrechnen, dass es ihm trotz der "profanen" Ausgangslage gelungen ist, einen spannenden Plot darum zu entwickeln, doch andererseits auch attestieren, dass es sich bei diesem Werk quasi um eine Fingerübung gehandelt hat, denn an die großen Werke seines Schaffens reicht Missing. New York schlicht weg nicht heran. Das allerdings ist bei einem Autor dieser Güte ebenfalls Jammern auf hohem Niveau, denn handwerklich und dramaturgisch lässt sich an der Geschichte kaum etwas aussetzen, wenn man den über Gebühr konstruiert wirkenden Plot einmal außeracht lässt, so dass sich Fans des Autors ohne große Vorbehalte auch diesem Roman widmen können, auch wenn selbst Winslows mittlerweile in die Jahre gekommene Neal-Carey-Reihe anfänglich mehr Innovationswillen besessen hat als dieser Roman. Schlussendlich bin aber froh, mich endlich einmal wieder Winslow gewidmet zu haben, auch wenn sein Œuvre noch deutlich mitreißendere Werke zu bieten hat, denn allein Frank Decker ist mir in seiner unnachgiebigen und verbissenen Art schnell ans Herz gewachsen.

Fazit & Wertung:

Mit Missing. New York gelingt es dem versierten Vielschreiber Don Winslow, eine anfänglich reichlich profan und generisch wirkende Geschichte zu einem überraschenden und mitreißenden Thriller zu formen, gleichwohl der Storybogen zugegebenermaßen zuweilen reichlich konstruiert wirkt. Dafür aber weiß Ich-Erzähler Frank Decker vollumfänglich zu überzeugen, derweil ich mir für den nächsten Band mit ihm ein wenig mehr Innovationswille wünschen würde.

7,5 von 10 langsam erkaltenden Spuren

Missing. New York

  • Langsam erkaltende Spuren - 7.5/10
    7.5/10

Fazit & Wertung:

Mit Missing. New York gelingt es dem versierten Vielschreiber Don Winslow, eine anfänglich reichlich profan und generisch wirkende Geschichte zu einem überraschenden und mitreißenden Thriller zu formen, gleichwohl der Storybogen zugegebenermaßen zuweilen reichlich konstruiert wirkt. Dafür aber weiß Ich-Erzähler Frank Decker vollumfänglich zu überzeugen, derweil ich mir für den nächsten Band mit ihm ein wenig mehr Innovationswille wünschen würde.

7.5/10
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Weitere Details zum Buch und dem Autor findet ihr auf der Seite von Droemer Knaur.

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Missing. New York ist am 12.01.18 als Taschenbuch bei Droemer Knaur erschienen. Hat der Artikel euer Interesse geweckt, dann bestellt doch über den folgenden Link und unterstützt damit das Medienjournal!

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