Und da wären wir wieder an diesem lauschigen Samstag und es wird Zeit für eine neue Serie, die seit ziemlich genau einem Monat bei Netflix zur Verfügung steht und die ich mir allein der Hauptdarstellerin wegen natürlich nicht entgehen lassen konnte.
Gypsy
Staffel 1
Gypsy, USA 2017-, ca 51 Min. je Folge
© Netflix
Lisa Rubin
Lisa Rubin
Naomi Watts (Jean Holloway)
Billy Crudup (Michael Holloway)
Sophie Cookson (Sidney Pierce)
Karl Glusman (Sam Duffy)
Poorna Jagannathan (Larin Inamdar)
Brooke Bloom (Rebecca Rogers)
Lucy Boynton (Allison Adams)
Melanie Liburd (Alexis)
Brenda Vaccaro (Claire Rogers)
Maren Heary (Dolly Holloway)
Shiloh Fernandez (Tom Devins)
Megan Sikora (Michelle Kessler)
Kimberly Quinn (Holly Faitelson)
Chris Meyer (Scott)
Frank Deal (Gary Levine)
Antu Yacob (Sasha Knolls)
Paris Remillard (Hunter Abbott)
Kerry Condon (Melissa Saugraves)
Drama | Thriller
Trailer:
Inhalt:
© Netflix
Jean Holloway führt als angesehene wie renommierte Therapeutin ein angenehmes Leben: Zusammen mit ihrem Mann Michael und der gemeinsamen Tochter Dolly bewohnen sie ein liebevoll eingerichtetes Vorstadt-Domizil und nach außen hin könnte nichts die Familienidylle trügen. Doch Jean treiben innere Dämonen um und während sie auf der Suche nach sich selbst immer wieder und immer öfter in die fiktive Rolle der freien Journalistin Diane Hart schlüpft, hat sie gleichsam ihren Mann im Verdacht, eine Affäre mit seiner Assistentin Alexis zu haben. Nicht nur in dieser Beziehung legt Jean allerdings andere Maßstäbe an als bei sich selbst, denn alsbald verguckt sie sich in die attraktive Sydney, der sie sich ebenfalls als Diane vorstellt. Während es aus der Vorstadthölle kein Entkommen zu geben scheint und sich in Jeans wie auch Dianes Leben die Probleme zu häufen beginnen, findet sie doch immerhin noch Abwechslung und Ausgleich darin, den Verwandten ihrer Therapie-Patienten nachzustellen, was zweifelsohne sämtliche Kompetenzen ihres Jobs weit überschreitet, zumal sie auch hier unter ihrem Alias Diane in Erscheinung tritt…
Rezension:
Und wieder wusste eine Netflix-Serienproduktion beinahe umgehend mein Interesse zu wecken, wobei das in diesem Fall zunächst einmal Naomi Watts zuzuschreiben ist, die ich für eine der ungemein begnadete, charismatische und vielerorts noch immer unterschätzte Schauspielerin halte, die für mich allein im Grunde schon Garant für hochkarätige und anspruchsvolle Unterhaltung darstellt, wobei der Umstand, dass sie hier eine innerlich zerrissene und auf der Suche nach sich selbst befindliche Therapeutin verkörpert, durchaus seinen Teil dazu beigetragen hat, die mancherorts als Thriller vermarktete Serie in den Fokus zu nehmen. Und tatsächlich entpuppt sich die von Lisa Rubin erdachte Mär in Gypsy nach und nach als waschechter Thriller, nur eben nicht der üblichen Machart, derweil man sich bis dahin durchaus auch ein wenig gedulden können sollte, denn speziell die Pilotfolge Der Kaninchenbau (1.01) schafft es – wenn ich ehrlich bin – nicht, regelrechtes Interesse zu schüren und dient vornehmlich dazu, Jean als Person, ihre Familie wie auch eine Handvoll in Therapie befindlicher Charaktere einzuführen, die samt und sonders noch so ihre Bewandtnis haben werden.
© Netflix
Dabei ist Gypsy in den allermeisten Fällen wahnsinnig unaufgeregt erzählt und gibt sich mit einem eher gemächlichen Tempo zufrieden, was allerdings den schleichenden Zerfall des Familien-Idylls wie auch die seltenen, dafür umso emotionaleren Ausbrüche nur noch weitaus mehr akzentuiert und ihnen eine Wirkung zugesteht, die bei "schnellerer" Inszenierung kaum möglich gewesen wäre. So deutet die Serie bald an, dass Therapeutin Jean Holloway mitnichten zufrieden ist mit ihrem Leben als Fourtysomething, dass – und darauf stellt die Figur selbst im inneren Monolog ab – unter der Oberfläche Abgründe und Sehnsüchte hausen, unerfüllte Begierden, Angst, Wut, Verzweiflung und zuweilen auch Selbsthass, dominiert von der alles überschattenden Frage nach dem eigenen Selbst. Entsprechend gibt sich die Serie nicht nur nachdenklich, sondern auch gerne nebulös, wobei im Zentrum jederzeit die Figur der Jean steht, der man aber auch als Zuschauer, der über weitaus mehr Wissen verfügt als die sie umgebenden Leute, nicht wirklich nahe kommt, denn vieles bleibt unausgesprochen, wird nur angedeutet, derweil das genau die Momente sind, in denen Naomi Watts (The Sea of Trees) zu brillieren weiß, denn sie geht völlig in ihrer Rolle auf und überrascht in mehr als nur einer Szene mit Oscar-würdigem Schauspiel, wenn ihr etwa in der dritten Episode Driftwood Lane (1.03) erstmalig die Kontrolle entgleitet und sie sich in einen aberwitzigen Wutanfall hineinsteigert, der die Figur regelrecht in einem neuen Licht erscheinen lässt.
Als ihr Ehemann an ihrer Seite derweil macht der grundsätzlich großartige Billy Crudup (Blood Ties) zunächst eine regelrecht blasse Figur und weiß abgesehen von ein paar diffusen Andeutungen kaum Interesse zu generieren, doch ändert sich auch dies im Verlauf der Staffel, zumal man nach und nach erfährt, was das Ehepaar Holloway bereits hinter sich hat. Vor allem aber versäumen es die Autoren der Serie nicht, auch die tiefe Verbundenheit der beiden zueinander herauszuarbeiten, denn in Anbetracht dessen, dass Jean bereits in der Auftaktepisode einen ersten interessierten Blick auf die Coffeeshop-Angestellte Sidney wirft, hätte Crudups Verkörperung von Michael Holloway schnell zum Klischee des gehörnten Ehemannes verkommen können, doch wird dies mehr als erfolgreich umschifft, zumal auch ihn Zweifel darüber umwehen, ob er nicht womöglich eine Affäre mit seiner Assistentin Alexis (Melanie Liburd) unterhält oder beginnen könnte. Um aber noch einmal auf die Figur der Sydney zurückzukommen, die von der aus Kingsman: The Secret Service bekannten Sophie Cookson verkörpert wird, entspinnt sich zwischen ihr und Jean eine nicht minder magische Chemie, die den Reiz des Seitensprungs sofort glaubhaft und nachvollziehbar scheinen lassen, derweil sich Jean zunächst noch in Zurückhaltung übt.
Letzter und gravierendster Punkt in Gypsy ist derweil aber auch Jeans völlig gestörtes Verhältnis zur Realität und ihrem Job, so dass die anfänglich so beliebig und beinahe regelrecht unnütz wirkenden Therapiegespräche – auf Küchenpsychologie hat man hier leider nicht verzichtet und manche der Ratschläge wirken wirklich wie aus dem billigsten Abreißkalender – zunächst einmal den Zweck erfüllen, aufzuzeigen, dass Jean sämtliche therapeutischen Vorbehalte über Bord wirft und sich unter falschem Namen in die Leben der Angehörigen ihrer Patienten schleicht, so dass auch bezüglich Sydney am Ende der ersten Folge eine Verbindung offenbar wird, welche die Bekanntschaft in ein gänzlich neues Licht rückt. Derlei Kniffe, im Nachhinein erhellende Offenbarungen anzubieten, nutzt Gypsy übrigens öfter und bleibt dadurch stets unvorhersehbar, sobald die Staffel zumindest an Fahrt aufgenommen hat, denn qualitativ vollzieht sich innerhalb der zehn Episoden ein spürbarer Sprung und speziell im letzten Drittel fiel es mir wirklich schwer, die verbleibenden Folgen nicht in einem Rutsch durchzusuchten. Hier finden sich im Übrigen auch einige inszenatorische Highlights, denn die als Doppel-Date aufgezogene siebte Episode Euphorie (1.07) beispielsweise hätte an Intensität kaum zu überbieten sein können und steigert sich mit jeder Einstellung mehr und mehr bis hin zu einem Crescendo sich überlagernder Nahaufnahmen der Gesichter der beiden Eheleute, die auch hier allein mit Worten und Mimik einen wahrhaft großartigen Moment schaffen. Das Staffelfinale Black Barn (1.10) steht dem erwartungsgemäß aber ebenfalls in kaum etwas nach, doch statt eines zufriedenstellenden Abschlusses werden hier vielerorts auch neue Angriffsflächen aufgetan, während die Vita von Jean um weitere Fragmente ergänzt wird, ihr sorgsam aufgebautes Kartenhaus derweil vermehrt ins Wanken gerät.
© Netflix
So braucht Gypsy zwar einige Zeit, um das volle Potential und die Tragweite zu entfalten, lässt aber immerhin bereits in der dritten Episode einen nachhaltigen Blick darauf werfen, wohin die Reise gehen mag, denn der anfangs so schleichende Prozess, in dem Jean eine Art Doppelleben zu führen beginnt und Lügengebilde auf Lügengebilde schichtet, nimmt immer obskurere Ausmaße an und es versteht sich von selbst, dass sie – insbesondere was die Übergriffe auf das Privatleben ihrer Therapiepatienten angeht – vermehrt in die Bredouille gerät, den Schein zu wahren, zumal sie selbst oft kaum zu wissen scheint, wieso sie tut, was sie tut, denn obwohl mit ungemein analytischem Verstand gesegnet (den man ihr nach den anfänglichen Alltags-Weisheiten im weiteren Verlauf dann auch wirklich abnimmt), scheint sie sich außerstande zu sehen, das Rätsel um sich selbst zu ergründen und das allein macht eine enorme Anziehungskraft der Serie aus, die zu entfalten sich kaum mehr lohnen könnte.
Gypsy | Staffel 1
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Fragwürdige Therapie-Ansätze - 8.5/10
8.5/10
Fazit & Wertung:
Die von Lisa Rubin ersonnene und mit Naomi Watts prominent besetzte Netflix-Serie Gypsy beginnt nicht eben packend und braucht einige Zeit, um ihren vollen Reiz zu entfalten, doch inszenatorische Finesse, ambivalente Emotionalität und vor allem eine rundweg undurchschaubare, vielschichtige wie innerlich zerrissene Hauptfigur machen die erste Staffel nach anfänglichen Querelen zu einem immer packender werdenden Erlebnis, das man sich bei entsprechenden Genre-Vorlieben nicht entgehen lassen sollte, zumal neben Watts auch Billy Crudup als ihr Ehemann zu brillieren versteht. Und hinter der Fassade lauert weit mehr, als es zunächst den Anschein haben mag.
Episodenübersicht: Staffel 1
02. Haltestelle Morgen (7,5/10)
03. Driftwood Lane (8,5/10)
04. 309 (7,5/10)
05. Die Kommune (8/10)
07. Euphorie (9,5/10)
08. Marfa (8,5/10)
09. Nimmerland (8,5/10)
10. Black Barn (9,5/10)
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Gypsy | Staffel 1 ist seit dem 30.06.17 exklusiv bei Netflix verfügbar.