Auch diese Woche habe ich mich selbstredend wieder einem Buch gewidmet, das wieder einmal im großartigen TOR Verlag erschienen ist, den ich ja wirklich ein wenig gefressen habe, seit es ihn gibt, auch wenn hier durchaus noch einiges seiner Lektüre harrt. Jetzt geht es aber erst einmal um den noch recht frisch erschienenen Science-Fiction-Roman von Annalee Newitz.
Autonom
Autonomous, USA 2017, 352 Seiten
© FISCHER Tor
Annalee Newitz
Birgit Herden
FISCHER Tor
978-3-596-70258-9
Science-Fiction | Drama
Inhalt:
Jack Chen nahm die Brille ab und stopfte das deaktivierte Gerät in die Brusttasche ihres Overalls. Sie hatte so lange in der gleißenden Sonne gearbeitet, dass sich blasse Ringe um ihre dunkelbraunen Augen abzeichneten. Es war die Sonnenbräune eines Farmers, ganz wie im Gesicht ihres Vaters, nachdem er einen langen Tag in den Feldern mit genoptimiertem Raps verbracht und durch seine Datenbrille auf die winzigen gelben Blüten geblickt hatte.
Im Jahr 2144 macht die Geschichte von Menschen die Runde, die sich wortwörtlich zu Tode arbeiten und buchstäblich ihre wie auch immer gearteten Tätigkeiten nicht mehr abzubrechen imstande sind. Schnell ist der Anti-Patent-Terroristin und Pharmakologin Jack Chen klar, dass dies im Zusammenhang mit dem noch neuen Mittel Zacuity der Firma Zaxy stehen mag, besser gesagt ihren illegal angefertigten Kopien der leistungssteigernden Medikamente. Während Jack Pläne schmiedet, wie und mit wessen Hilfe sich womöglich eine Art Gegenmittel zu dem Medikament entwickeln ließe, heftet sich die International Property Coalition an ihre Fersen und brandmarkt sie als Verursacherin der Katastrophe. Zu diesem Zweck werden der Agent Eliasz und ein Militärbot namens Paladin entsandt, um den Spuren der umtriebigen Terroristin zu folgen, die ihnen allerdings stets einen Schritt voraus zu sein scheint. Nichtsdestotrotz droht die Zeit knapp zu werden und die von Zacuity verursachten Zwischenfälle beginnen sich in den Medien zu häufen…
Rezension:
Annalee Newitz‘ Autonom besticht fernab seiner spannenden Prämisse um das Medikament Zacuity vorrangig durch ihre kluge und hellsichtige Behandlung der persönlichen Identität, sowohl, was das Geschlecht anbelangt, als auch Normen und Konventionen, die in ihrer rund 120 Jahre in der Zukunft angesiedelten Geschichte freilich gänzlich andere sind, als man sie heute kennt. Durch das vermehrte Aufkommen von Robotern und Biobots, die in jeglicher Form, Variation, Größe und Funktion auf den Plan treten können, hat sich zudem in der Realität des Romans ein neues Kontrakt-System etabliert, das der früheren Sklavenhaltung nicht unähnlich sein mag und daher rührt, dass die Firmen dergestalt die entstehenden Kosten für den Bau eines Roboters oder Androiden wieder einspielen können, wobei sich das System längst auch auf menschliche Kontrakt-Arbeiter ausgeweitet hat, wie man sehr schön anhand der Figur Dreinull erfährt, die der Protagonistin auf den ersten Seiten des Buches begegnet.
Unter Paladins Rückenpanzer war Sand geraten, und seine Aktoren schmerzten. Es war sein erstes Training – oder vielleicht auch sein vierzigstes. Während der Formatierungsphase fiel es schwer, ein lineares Zeitbewusstsein zu entwickeln; manchmal verdoppelten oder verdreifachten sich Erinnerungen, bevor sie jene gerade Linie bildeten, die sich hoffentlich eines Tages hinter ihm erstrecken würde – gerade so wie die Spur aus vierzehigen Fußabdrücken, die er bei seinem Gang durch die Dünen hinterließ.
Bei selbiger handelt es sich derweil um die Wissenschaftlerin Jack Chen – eigentlich Judith – die sich als illegaler Pharmakologe betätigt und Medikamente kopiert, um so die durch Patente geschützten Medikamente der Großkonzerne auch weniger gut betuchten Bürgern zugänglich zu machen, was sie zu einer Art Robin Hood werden lässt, der allerdings durch die auftretenden Probleme mit Zacuity in eine tiefe Sinnkrise gestürzt wird, schließlich deutet alles darauf hin, dass es ausgerechnet die von ihr kopierten Mittel sind, die die Bevölkerung dem wortwörtlichen Arbeitswahn verfallen lassen, auch wenn die Schuld beim originären Medikament zu suchen ist. Ihr gegenüber steht wiederum Paladin, ein für militärische Zwecke konzipierter Bot, der ebenfalls seinen zehnjährigen Kontrakt zu absolvieren hat, bevor ihm echte Autonomie zugestanden würde und der seinerseits von der International Property Coalition – kurz IPC – eingesetzt wird, um im Auftrag der Firma Zaxy der Anti-Patent-Terroristin Jack auf die Spur zu kommen. Gleichwohl ihr dabei der Agent Eliasz zur Seite gestellt ist, liegt der Fokus doch stets auf Paladins Gedanken und Betrachtungen, was allein schon für einen ungewöhnlichen Fokus innerhalb der Geschichte sorgt.
Während sich aber die Handlungsstränge um Jack und Paladin in vertrauter Manier abzuwechseln beginnen und nach und nach auch Rückblicke in die jungen Jahre von Jack beinhalten, die skizzieren, wie sie zu dem geworden ist, was sie nunmehr in den Augen der Pharma-Konzerne verkörpert, finden sich leider zu Beginn auch einige Längen in der Geschichte, die für mich nicht zu ignorieren sind, denn so klug und clever der Grundgedanke von Autonom sein mag, erweist sich das Werk bis etwa zu Beginn des Mittelteils als zuweilen ein wenig sperrig, zumal man mit einer Vielzahl an Fraktionen, Parteien, Interessengemeinschaften sowie nicht zuletzt Kunstwörtern konfrontiert wird, die zu verorten anfänglich nicht ganz einfach ist. So greifen die parallel verlaufenden Handlungsstränge nicht immer gut ineinander, auch wenn natürlich klar sein dürfte, dass sie erst zum Ende hin wirklich zusammenlaufen werden. Was aber zu Beginn manchmal ermüdet, schwingt sich spätestens im letzten drittel zu neuen Höhen auf, denn während es bei Jack darum geht, die Gefahr durch das ungetestete Medikament einzudämmen, ist Paladin zwar auf einer Mission, in seinem eigenen Empfinden aber auch erst seit wenigen Tagen auf der Welt, was zahllose spannende Fragestellungen im Bezug auf seine oder ihre Identität ermöglicht, die von Newitz auch ausgiebig behandelt werden, insbesondere im Kontext der Gefühle von Eliasz zu seinem neuen Partner und der damit einhergehenden Vermenschlichung des Bots, dessen Wesen sich nur schwerlich mit den gängigen Konventionen vereinbaren lässt.
Fangs Anfrage kam zusammen mit einem öffentlichen Legitimierungsschlüssel und einer komprimierten Datei, aus der eine dreidimensionale Karte der Einrichtung erwuchs. Ein Konferenzraum vierzig Meter unter ihnen war rot markiert. Laut den Metadaten der Karte befanden sie sich in einer ausgedehnten Militäreinrichtung, die von der Regierung der Afrikanischen Föderation betrieben wurde. Anscheinend leisteten die Bots hier die Art von Arbeit, für die auch er ausgebildet worden war: Aufklärung, Analyse und Kampfeinsätze. Paladin war soeben zu seiner ersten Einsatzbesprechung eingeladen worden. Es war Zeit, dass er sich seinem neuen Kameraden ordentlich vorstellte.
Hier liegen freilich auch die größten stärken des Buches und es kommt nicht von ungefähr, dass Autonom für seine eingehende Auseinandersetzung mit den Themen Biotechnologie und künstliche Intelligenz gelobt wird, wobei da der eigentliche Plot wie gesagt mancherorts nicht ganz mithalten kann. Zum Glück trübt das den Lesegenuss meist nur unmerklich, doch sollte man sich eben darauf einstellen, dass man es zwar mit einem über die Maßen innovativen und klugen, zum Nachdenken anregenden Buch zu tun bekommt, die eigentliche Geschichte aber nicht ganz so zugänglich daherkommt wie die angeschnittenen Gedankenspiele und Überlegungen, die das Herzstück des Romans ausmachen. In der Summe handelt es sich aber bei Newitz‘ Werk um ein überaus lohnendes Buch, wenn es um intelligente Science-Fiction geht, die es nicht nötig hat, mit ausladender Action oder einem Übermaß an Figuren über narrative Schwächen hinwegzutäuschen. Entsprechend gespannt bin ich, was man von der amerikanischen Journalistin und nun eben auch Autorin in Zukunft noch wird lesen können.
Autonom
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Von Programmen diktierte Entscheidungen - 8/10
8/10
Fazit & Wertung:
Annalee Newitz liefert mit Autonom einen überaus klugen und lohnenswerten Science-Fiction-Roman ab, der sich den Themen Biotechnologie und Geschlechteridentität verschrieben hat und diesbezüglich auf ganzer Linie überzeugt. Der eigentliche Plot hätte gern etwas straffer und zugänglicher gestaltet werden können, aber das trübt das Vergnügen mit diesem ungewöhnlichen Werk wirklich nur marginal.
Weitere Details zum Buch und dem Autor findet ihr auf der Seite von FISCHER Tor.
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Autonom ist am 24.05.18 bei FISCHER Tor erschienen. Hat der Artikel euer Interesse geweckt, dann bestellt doch über den folgenden Link und unterstützt damit das Medienjournal!