Review: The Electric State | Simon Stålenhag (Buch)

Kommen wir heute zu einem gleichermaßen ungewöhnlichen wie empfehlenswerten Buch, dem ich mit nachfolgendem Text hoffentlich auch nur annähernd gerecht werde. Ansonsten noch einen schönen Abend und bis morgen an dieser Stelle.

The Electric State
Ein illustrierter Roman

The Electric State, SE 2018, 144 Seiten

The Electric State von Simon Stålenhag | © FISCHER Tor
© FISCHER Tor

Autor/Illustrator:
Simon Stålenhag
Übersetzer:
Stefan Pluschkat

Verlag (D):
FISCHER Tor
ISBN:
978-3-596-70379-1

Genre:
Endzeit | Drama | Abenteuer | Science-Fiction

 

Inhalt:

Es war stockdunkel, als wir losfuhren, und die Bilder, die in meinem Kopf herumschwirrten, fühlten sich realer an als die Welt da draußen. Birgittes Augen waren gräulich gewesen, mit suchendem Blick, als wäre irgendetwas von einer Sekunde auf die andere verschwunden. Wie lange hatte sie wohl im Pool gelegen? Ein paar Stunden? Nachdem sie das ganze Wasser aufs Sofa gespuckt hatte, brach sie zusammen.

Nach einem verheerenden Drohnenkrieg hat sich das Amerika des Jahres 1997 zu einer Art postapokalyptischem Massengrab verwandelt, doch gibt es allerorten Überlebende wie etwa Michelle, die sich gemeinsam mit dem kleinen Roboter Skip im Schlepptau aufmacht, die verlassenen Highways zu bereisen und die Berge zu überqueren, um schlussendlich ans Meer zu gelangen. Dabei begegnen ihr nicht nur die letzten Reste der Menschheit und zahlreiche Fragmente ihrer einstigen Zivilisation, sondern sie wird auch Zeuge, wie sich aus der Asche und den Trümmern etwas Neues erhebt, das die verbliebenen Menschen in die Zuflucht der virtuellen Realität lockt. Und bei all dem verfolgen sie ihre eigene Vergangenheit ebenso wie die fehlgeleiteten Träume der Menschheit, die diese neue Welt überhaupt erst haben möglich werden lassen…

Rezension:

Ursprünglich wurde The Electric State via Kickstarter-Kampagne finanziert und realisiert, wobei es sich nach Tales from the Loop und Things from the Flood eigentlich schon um das dritte Buch seitens Simon Stålenhag handelt, der hier eben nicht nur als Autor, sondern gleich noch als Konzept-Designer und Künstler in Erscheinung tritt. Denn auch sein nunmehr drittes Werk zeichnet sich vorrangig durch die Verquickung von Literatur und Kunst aus, während beide Handlungsebenen einerseits selbstständig koexistieren, sich andererseits immer wieder überlappen, ergänzen, bedingen, was ein gleichermaßen ambitioniertes wie assoziatives Werk ergibt, dem sich nun der FISCHER Tor Verlag angenommen hat, um dem Markt auch eine deutschsprachige Version präsentieren zu können. Die scheint mit nicht einmal 150 Seiten zwar nicht gerade umfangreich zu sein, doch kommt der Band eben auch im in übergroßem Format und mit reichlich vollfarbigen Zeichnungen daher, während das wertige Hardcover dem Ganzen den verdienten Rahmen verleiht.

Wahrscheinlich hängst du noch der alten Vorstellung nach, dass das sogenannte Ich irgendwo im Gehirn sitzt. Wie ein winziger Pilot in einem Cockpit hinter den Augenhöhlen. Du glaubst, das »Ich« wäre eine Mischung aus Erinnerungen und Gefühlen – lauter Dingen, die dich zum Weinen bringen. Und im Gehirn steckt es, weil es nicht im Herzen sitzt, das, wie du gelernt hast, bloß ein Muskel ist.

So ist The Electric State eben weit mehr als nur ein "illustrierter Roman", wie es von Verlagsseite behauptet wird – was ja auch grundsätzlich stimmt –, sondern vielmehr eine regelrechte Chimäre aus dystopischem Endzeit-Roman und Kunstband, was ihm durchaus einen Ehrenplatz in der heimischen Bibliothek bescheren dürfte. Konzipiert sind die Geschehnisse derweil als eine Art Buch gewordenes Road-Movie und unterteilen sich in gleich mehrere Etappen, die allesamt und unweigerlich in Richtung Meer führen, auch wenn man als in das Geschehen geworfener Leser lange nicht weiß, was die Protagonistin dort zu finden oder zu erreichen hofft. Aufgebrochen wird dieses episodisch angelegte Geschehen dabei einerseits durch Erinnerungen und Schilderungen der Protagonistin, die aus der Zeit vor dem Zusammenbruch der Gesellschaft stammen sowie von regelrecht philosophischen Passagen, die sich dem Wesen der menschlichen Seele und des Seins widmen und damit auf kryptische Art auch Hinweise geben, wie es zu der Welt kam, wie man sie hier erlebt.

Die einzelnen Elemente scheinen dabei nicht immer zusammenzupassen oder auch nur einen Zusammenhang zu besitzen, doch trügt dieser Eindruck freilich und spätestens zum Ende hin wird man eines umfassenderen, hintergründigeren Gesamtbildes gewahr, wobei es Stålenhag gar gelingt, eine der zentralsten Begegnungen oder Konfrontationen gänzlich wortlos in Szene zu setzen und seine gleichsam verstörenden wie verzaubernden Kunstwerke ganz für sich sprechen zu lassen. Sicherlich mag The Electric State in dieser Hinsicht nicht so ganz den üblichen Lesegewohnheiten entsprechen und wer sowohl Freund von klassischen Büchern als auch Graphic Novels ist, hat hier sicherlich einen Gewöhnungsvorsprung, doch sollte man in jedem Fall einen Versuch wagen, wenn man sich dem Setting und der Thematik nur halbwegs zugetan fühlt. Dabei greift der Autor sowohl in Bild als auch Schrift sicherlich auch auf viele einschlägige Versatzstücke zurück, die einen gleichsam an Matrix wie an Ready Player One denken lassen, doch gerade durch die oft diffus gehaltene, mitnichten alles abschließend aufklärende Erzählform schafft er etwas gänzlich Neues und Einzigartiges, ganz davon abgesehen, dass viele seiner Bilder sich für lange Zeit in das Gehirn zu brennen wissen.

Ausschnitt aus The Electric State | © FISCHER Tor
© FISCHER Tor

Was man sich nur nicht erwarten sollte von The Electric State, wäre, ein adrenalingeschwängertes Endzeit-Abenteuer geliefert zu bekommen, denn das trotz des beklemmenden und oft bedrohlichen Settings ist es im Kern ein ungemein melancholisch geprägtes Drama, spätestens wenn man erfährt, was es mit Roboter Skip auf sich hat, der Michelle auf ihrer Reise jederzeit begleitet. Das Beste allerdings kommt im Grunde ganz zum Schluss, denn die Vorschau auf den letzten Seiten lässt darauf schließen, dass man sich seitens FISCHER Tor anschickt, auch die beiden vorangegangenen Bände von Simon Stålenhag in deutschsprachiger Fassung zu veröffentlichen und nach diesem faszinierender Reise durch ein verheertes Amerika könnt ihr sicher sein, dass ich mir auch diese Werke nicht entgehen lassen würde. Wer also ebenfalls bereit ist, sich in einem enigmatischen, hellsichtigen, betörenden wie abgründigen Paralleluniversum zu verlieren, dem sei dringend empfohlen, den "Electric State" zu bereisen und Michelle zu begleiten, auch wenn die Aufmachung und Narrative nicht unbedingt den üblichen Erwartungen entsprechen mag.

Fazit & Wertung:

Mit The Electric State offeriert der skandinavische Autor und Künstler Simon Stålenhag die wohl denkbar einnehmendste Verquickung aus Kunst und Literatur und lässt in seiner Welt gleich mehrere episodische Handlungsstränge durch die schiere Macht der Assoziationen ineinanderlaufen, was ein bedrückendes wie betörendes Gesamtwerk voll schwelgerischer Schönheit und bedrohlicher Fremdartigkeit ergibt.

10 von 10 Begegnungen am Wegesrand

The Electric State

  • Begegnungen am Wegesrand - 10/10
    10/10

Fazit & Wertung:

Mit The Electric State offeriert der skandinavische Autor und Künstler Simon Stålenhag die wohl denkbar einnehmendste Verquickung aus Kunst und Literatur und lässt in seiner Welt gleich mehrere episodische Handlungsstränge durch die schiere Macht der Assoziationen ineinanderlaufen, was ein bedrückendes wie betörendes Gesamtwerk voll schwelgerischer Schönheit und bedrohlicher Fremdartigkeit ergibt.

10.0/10
Leser-Wertung 5.33/10 (3 Stimmen)
Sende

Weitere Details zum Buch und dem Autor findet ihr auf der Seite von FISCHER Tor.

– – –

The Electric State ist am 23.10.19 bei FISCHER Tor erschienen. Hat der Artikel euer Interesse geweckt, dann bestellt doch über den folgenden Link und unterstützt damit das Medienjournal!

Sharing is Caring:

Hinterlasse einen Kommentar