Kommen wir heute mal zu einem Science-Fiction-Werk, das ich mir spontan zugelegt habe, von dem ich mir dank vieler glorifizierender Stimmen aber eben auch erheblich mehr erhofft habe. Warum, lest ihr nachfolgend.
Neon Birds
Neon Birds, DE 2019, 463 Seiten
© Bastei Lübbe
Marie Graßhoff
Originalausgabe; entfällt
Bastei Lübbe
978-3-404-20000-9
Science-Fiction | Drama | Abenteuer
Inhalt:
»Scheiße«, stieß Luke aus und sprang auf, als die Wesen ebenfalls am West- und Osttor Stellung bezogen – und die Bewegungsmelder weiterhin stumm blieben. Sein Stiefel riss seine Kaffeetasse von der Tischplatte. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis sie mit einem Klirren auf dem Boden aufschlug und in tausend Teile zersprang.
Es ist das Jahr 2101 und schon vor geraumer Zeit ist eine Künstliche Intelligenz namens KAMI außer Kontrolle geraten und hat mittlerweile selbst Menschen "infiziert", was sich darin äußert, dass diese zu einer Art hyperfunktionaler Cyborgs mutiert sind, denen jede menschliche Emotion fremd geworden ist und die – dank Nano-Technologie – hochansteckend für die noch nicht befallene Erdbevölkerung sind. Entsprechend existieren mittlerweile riesige Sperrzonen auf der ganzen Welt, um die sogenannten Moja unter Kontrolle zu halten, womit auch mehrere Spezialeinheiten betraut worden sind. Doch es gibt auch Gruppierungen, die KAMI als eine Art Maschinengott anbeten und so stehen diese schnell unter Verdacht, als sich während der Schicht von Praktikant Luke die Tore einer der Sperrzonen öffnen und nicht nur das Dorf von Andra regelrecht verheeren. Nicht nur Lukes Mitbewohner Flover, sondern auch der hochdekorierte, aber nach dem Vorfall in São Paulo aus dem aktiven Dienst geschiedene Okijen werden eilends herbeigerufen, den Angriff der Moja abzuwenden, doch die Frage bleibt, wie so etwas überhaupt hat passieren können…
Rezension:
Von den zahlreichen positiven Rezensionen angefixt, habe ich mir jüngst als eine Art Spontankauf Neon Birds zugelegt, der seinerseits den Auftakt einer dreibändigen Reihe darstellt. Nicht nur Schreibstil und Prämisse, sondern insbesondere das Wordlbuilding wurden oft und gerne über den grünen Klee gelobt und entsprechend hat es mich schon gereizt, in diese spannende Zukunft abzutauchen. Leider muss ich aber direkt festhalten, dass mich der Roman von Marie Graßhoff nicht annähernd so zu fesseln wusste, wie ich es mir erwartet hätte und wie es vielen anderen erging. Der Einstieg in die Geschichte ist ohne Frage stark und auch wenn man zu diesem Zeitpunkt noch kaum eine Ahnung hat, wie diese zukünftige Welt beschaffen sein mag, reichen die rudimentären Infos doch völlig, um mit den Menschen innerhalb der Station nahe der Tore mitzufiebern, die nach wenigen Seiten bereits nicht mehr standzuhalten scheinen. Gelungen auch, wie dank zunehmender Verzahnung der Ereignisse die weiteren Hauptfiguren eingeführt werden, zu denen neben Luke und dessen Mitbewohner Flover eben der quasi in Rente gegangene Okijen und die Dorfbewohnerin Andra zählen, deren Dorf bei dem unerwarteten Angriff reichlich in Mitleidenschaft gezogen wird.
»Wir holen jeden verfügbaren Agenten rein und organisieren und mit der MaKE-Einheit. Die sind bisher heillos unterbesetzt. AGAIN ist dran, sich um die Tiere zu kümmern, die zusammen mit den Moja aus der Sperrzone ausgebrochen sind. Vorrangig um die Vögel.«
Leider fangen da aber auch die Probleme schon an, denn die handelnden Charaktere sind allesamt Anfang zwanzig und ich muss zugeben, dass es schon befremdlich wirkt, wenn sowohl Flover als auch Okijen hochdekorierte und weithin geachtete Supersoldaten sein sollen. Im Fall von Flover kann man noch dessen Mutter vorschicken, die ein mehr als hohes Tier darstellt. Doch insbesondere Okijen wirkt mehr wie der verbitterte Veteran, der des Kämpfens müde geworden ist, was es umso schwieriger macht, wenn man erkennt, dass der vor gerade einmal zwei Jahren den Dienst quittiert hat, ansonsten aber eben mit den beinahe schon obligatorischen Dämonen seiner Vergangenheit zu kämpfen hat. Bei den anderen Charakteren stört diese Tatsache weit weniger, doch ist es trotzdem seltsam und schade, dass man eben nur auf die Geschicke dieser vier vergleichsweise jungen Protagonisten abstellt, während die eigentlichen Entscheidungsträger nur am Rande eine Rolle spielen. Zudem bringt dies mit sich, dass nach dem fulminanten Auftakt leider prompt einiges in den Leerlauf gerät und die Geschichte zunächst zu dümpeln beginnt.
Das nutzt Graßhoff zwar ausgiebig, die von ihr ersonnene Welt weitergehend zu skizzieren und hat hierbei auch einige faszinierende Ideen und Entwicklungen in petto, doch ausgehend von der vollmundigen Anpreisung von KAMI und den Moja gibt es in dieser Richtung zunächst herzlich wenig zu erfahren und alles dreht sich stattdessen um die Traumata und Vergangenheitsbewältigung von Luke, Flover, Andra und Okijen. Die sind ebenfalls gelungen charakterisiert, doch macht die Diskrepanz zwischen Alter und angedichteter Lebenserfahrung es schwer, sich wirklich in sie hineinzuversetzen, derweil insbesondere Andra die meiste Zeit zur Untätigkeit verdammt ist. So ist Neon Birds dann auch über weite Strecken mehr Charakter-Drama als Science-Fiction-Thriller, auch wenn man merkt, dass der Roman gern beides gewesen wäre. Gelungen hingegen sind die eingestreuten Akteneinsichten und Essays, die einem nicht nur die Spezialeinheiten und die Fähigkeiten der Moja näherbringen, sondern nach und nach auch Personalprofile zu den Protagonisten offenbaren.
Leicht desorientiert trat er von der Plattform in die Nordzone der weitläufigen Halle hinein, die er über lange Zeit fast als sein Zuhause bezeichnet hätte. Die MaKE-Zentrale hatte sich seitdem nicht verändert. Kühle Neonröhren erleuchteten die sich schier endlos in die Länge ziehende Halle. Ausrüstungen, Uniformen und schwere Geschütze lagerten an den Seiten, und zwischen der militärischen Ordnung schwärmten Hunderte von Soldaten, Agenten und Organisatoren umher.
So kann ich nicht behaupten, mich bei der Lektüre gelangweilt zu haben, doch der entschleunigte Mittelteil hätte durchaus etwas mehr Spannung und Tempo vertragen können, zumal das vergleichsweise hektisch daherkommende Finale in vielen Punkten leider nur halb so überraschend geraten ist, wie es das gerne gewesen wäre und schlussendlich, wie sollte es anders sein, mit einem ziemlichen Cliffhanger beendet wird. Nun wusste ich ja bereits im Vorfeld, dass der zweite und dritte Teil bereits geplant beziehungsweise veröffentlicht sind, doch bin ich mir tatsächlich noch unsicher, ob ich nach Neon Birds so bald wieder ins Jahr 2101 zurückkehren möchte. Allein die Kräfte der Moja nämlich sowie deren Kategorisierung in drei Generationen haben mehr etwas von Videospiel-Charakter an sich, während sie ansonsten kaum mehr als ein Plot-Device darstellen und das persönliche Schicksal der Hauptfiguren dann doch in vielen Punkten vergleichsweise generisch und austauschbar geraten ist. Den großen Hype um das Buch – auch wenn es vereinzelt auch kritischere Stimmen geben mag – kann ich zumindest nicht nachvollziehen, denn dafür sind mir Schwerpunkte und Zielgruppe zu diffus geraten.
Neon Birds
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Bedrohliche Moja - 7/10
7/10
Fazit & Wertung:
Der Trilogie-Auftakt Neon Birds von Marie Graßhoff lockt mit vielversprechender Prämisse und interessantem Worldbuilding, weiß nach gelungenem Einstieg aber leider nicht allzu viel damit anzufangen und stellt für meinen Geschmack zu sehr auf die persönlichen Befindlichkeiten der Protagonisten ab, anstatt eine mitreißende Handlung zu entwickeln. Gegen Ende mag das Geschehen wieder an Fahrt aufnehmen, überzeugt aber auch hier dank vorhersehbarer Offenbarungen nur bedingt. Bleibt zu hoffen, dass die Nachfolgebände der zugegebenermaßen faszinierenden Welt von 2101 weitere Facetten und mehr Detailreichtum angedeihen lassen werden.
Weitere Details zum Buch und der Autorin findet ihr auf der Seite von Bastei Lübbe. Dort findet sich übrigens auch eine Leseprobe.
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Neon Birds ist am 27.11.19 als Taschenbuch bei Bastei Lübbe erschienen. Hat der Artikel euer Interesse geweckt, dann bestellt doch über den nachfolgenden Link und unterstützt damit das Medienjournal!