Heute wird es wieder Zeit für eine ausgefallenere Buch-Kritik, denn endlich habe ich Zeit gefunden, mich der nachfolgenden Geschichtensammlung zu widmen, zu der ich euch gerne einen Eindruck vermitteln möchte.
Zerbrechliche Dinge
Geschichten und Wunder
Fragile Things: Short Fictions and Wonders, USA 2006, 416 Seiten
© Eichborn Verlag
Neil Gaiman
Ruggero Leò
Hannes Riffel
Sara Riffel
Dietmar Schmidt
Karsten Singelmann
Eichborn Verlag
978-3-847-90655-1
Fantasy | Abenteuer | Mystery
Inhalt:
In Zerbrechliche Dinge: Geschichten und Wunder erzählt Neil Gaiman von Sherlock Holmes in einem ganz und gar fremden und merkwürdigen London, lässt Jungen merkwürdige Bekanntschaften machen und Männer noch merkwürdigere Reisen unternehmen, schildert die Erlebnisse einer Gruppe von ausgesuchten Feinschmeckern, lässt Shadow in einem alten Gemäuer in Schottland arbeiten oder widmet sich einem durch und durch andersartigen Gargoyle. Er lässt eine Schar Exzentriker sich zur Sperrstunde Geistergeschichten erzählen und die Monate zu einem Treffen antraben, umreißt die Lebensgeschichte eines in der Matrix Gefangenen und gibt eine mehr als diffuse Anleitung, wie man auf Partys Mädchen anspricht. Und wie der Titel vermuten lässt, stecken all diese Miniaturen voller Wunder und Mysterien, denen man sich nur selten zu entziehen vermag…
Rezension:
Zugunsten von Abwechslung und Vielfalt habe ich mich einmal mehr auf eine Anthologie gestürzt, die ihrerseits diesmal den Namen Zerbrechliche Dinge: Geschichten und wunder trägt und nicht weniger als 31 Kurzgeschichten des gefeierten und mehrfach prämierten Autors Neil Gaiman enthält. Was genau es mit dem Titel auf sich hat, erklärt Gaiman selbst im überaus lesenswerten Vorwort, derweil auch die Auswahl an Zitaten für diesen Artikel dahingehend zumindest schon einmal einen Eindruck vermittelt. Darüber hinaus punktet das Vorwort aber vorrangig damit, zu beinahe jeder der Geschichten den Autor selbst kurz zu Wort kommen zu lassen, um dessen eigene Abschätzung abzugeben oder sie auch nur thematisch und inhaltlich verorten zu können, denn auch wenn es sich überwiegend um Prosa-Texte und vereinzelte Lyrik handelt, hätten mir manche Storys ohne Kontext tatsächlich nur halb so gut gefallen. Entsprechend bedauerlich ist es aber auch, dass besagte Texte sich nicht vor der jeweiligen Geschichte finden, sondern allesamt im Vorwort untergebracht sind, so dass man bei der gedruckten Fassung zumindest gehörig mit Vor- und Zurückblättern beschäftigt ist, wohingegen es bei der Hörbuchfassung- habe ich mir sagen lassen – besser gelöst ist.
Während ich diese Zeilen verfasse, fällt mir auf: Das Besondere an den meisten Dingen, die wir für zerbrechlich halten, ist, wie zäh sie eigentlich sind. Als Kinder kannten wir Tricks, mit denen wir Eier erscheinen ließen, als wären sie tragender Marmor, und es heißt, der Schlag eines Schmetterlingsflügels am rechten Ort kann jenseits des Ozeans einen Hurrikan auslösen. Herzen können brechen, zugleich aber sind Herzen die stärksten Muskeln, die ein Leben lang ohne nennenswerte Aussetzer schlagen können, siebzigmal pro Minute. Selbst Träume, die zartesten und ungreifbarsten aller Dinge, sind mitunter bemerkenswert schwer totzukriegen.
Das rüttelt aber freilich nicht an der eigentlichen Qualität der Geschichten und die sind teils wirklich großartig, teilweise aber natürlich auch nur okay, was sich bei der Masse an Geschichten aber natürlich kaum vermeiden lässt. Immerhin eröffnet Zerbrechliche Dinge außerordentlich gelungen mit einer Gaiman’schen Sherlock-Holmes-Interpretation im Lovecraft-Stil und lässt in Eine Studie in Smaragdgrün den kultigen Ermittler in einem mehr als eigenwilligen Fall agieren, dessen Merkwürdigkeiten sich erst Schicht um Schicht offenbaren. Nun liegt es mir aber fern, zu jeder einzelnen Geschichte Stellung zu nehmen und diese zu bewerten, denn gerade eine Anthologie dieser Art muss als Ganzes zu überzeugen wissen und hier lehne ich mich mal weit aus dem Fenster und behaupte, dass wer schon vorher Fan des Autors gewesen ist, auch hier überwiegend seine Freude haben dürfte, wohingegen Quereinsteiger wohl besser eher zu einem seiner Romane wie etwa Der Ozean am Ende der Straße greifen, die dann doch in Aufbau und Erzählrhythmus deutlich zugänglicher sein dürften.
So hat auch mir mitnichten jede der enthaltenen Storys in Gänze gefallen und auffallend viele der Geschichten enden vergleichsweise offen und nebulös, während auch allerhand Fingerübungen enthalten zu sein scheinen, die sich typischer Klischees und Versatzstücke bedienen und nicht eben zu Gaimans Bestleistungen zählen, wie er mancherorts aber auch selbst freimütig einräumt. Ebenfalls eher überflüssig empfand ich beispielsweise Strange Little Girls, denn hierbei handelt es sich um zwölf kurze Texte zu den jeweiligen Persönlichkeiten der Songs von Tori Amos‘ gleichnamigem Album, so dass hier zwar der erörterte Kontext hilfreich gewesen ist, ich aber den Texten abgesehen von ihrer stilistischen Güte wenig abgewinnen konnte. Doch es gibt freilich im Umkehrschluss auch einiges an Kleinoden in Zerbrechliche Dinge zu entdecken und ganz vorne mit dabei dürfte die den Band beschließende Erzählung Der Herr des Tals sein, bei der es sich um eine Quasi-Fortsetzung von American Gods handelt, die diesmal Shadow ein Abenteuer in Schottland erleben lässt und immerhin rund 60 Seiten umfasst, was schon auffallend viel ist für die ansonsten überwiegend eher kurzen Texte.
Geschichten sind, so wie Menschen und Schmetterlinge, Singvogeleier, Herzen und Träume, ebenfalls zerbrechliche Dinge; sie bestehen aus nichts Belastbarem, lediglich aus sechsundzwanzig verschiedenen Buchstaben und einer Handvoll Satzzeichen. Oder sie sind Worte in der Luft, gebildet aus Lauten und Ideen – abstrakt, unsichtbar und nach dem Aussprechen wieder verschwunden –, und was könnte zerbrechlicher sein als das? Doch manche Erzählungen, kurze, schlichte, in denen Leute ein Abenteuer erleben oder Wunder bewirken, Geschichten über Mirakel und Monster, haben die Menschen überlebt, die sie erzählten und manche davon haben sogar die Länder überdauert, in denen sie erfunden wurden.
So wird es ganz allgemein immer wieder magisch und merkwürdig, fantasiereich und fantastisch, melancholisch und mysteriös, während Gaiman sich an allerhand Storys versucht, die zwar kaum etwas miteinander gemein haben mögen, aber doch ein umfassendes und vor allem abwechslungsreiches Bild seines Schaffens liefern. Das beinhaltet nämlich weit mehr als "nur" die im letzten Absatz erwähnte Vorlage zu der gleichnamigen Starz-Serie und seine gefeierte Sandman-Reihe, sondern ein ganzes Panoptikum an merkwürdigen Figuren und seltsamen Geschichten, voller Wunder, voller Gefahren, voller Träumerei und voller Geheimnisse, die sich erstmals hier in adäquater Form versammelt sehen. Denn auch wenn der Band unter gleichem Namen bereits 2010 bei Klett Cotta veröffentlicht worden ist, enthält der quasi nur einen Bruchteil der hier enthaltenen Geschichten, womit es sich selbst für Besitzer des Quasi-Vorgängers lohnen dürfte, hier noch einmal zuzuschlagen, gleichwohl die subjektiv "wichtigsten" Geschichten auch in der alten Ausgabe enthalten sind.
Zerbrechliche Dinge: Geschichten und Wunder
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Geschichten voller Magie und Merkwürdigkeiten - 8/10
8/10
Fazit & Wertung:
Mit Zerbrechliche Dinge: Geschichten und Wunder offeriert der Eichborn Verlag eine umfangreiche wie differenzierte Anthologie des Schaffens von Kult-Autor Neil Gaiman, dessen Storys und Werke zwar nicht allesamt im selben Maße zu überzeugen wissen, aber doch einen durchweg unterhaltsamen und vor allem abwechslungsreichen Querschnitt seiner Arbeiten abbilden und somit insbesondere bei Fans durchaus Anklang finden sollten.
Weitere Details zum Buch und dem Autor findet ihr auf der Seite des Eichborn Verlages. Dort findet sich übrigens auch eine Leseprobe.
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Zerbrechliche Dinge: Geschichten und Wunder ist am 19.03.19 im Eichborn Verlag erschienen. Hat der Artikel euer Interesse geweckt, dann bestellt doch über den nachfolgenden Link und unterstützt damit das Medienjournal!